Die Notaufnahme an diesem Wintertag ist voll, wie immer. Es herrscht geschäftige Betriebsamkeit, wie man so schön sagt. Übersetzt: Langweilig wird mir nicht.
Gerade habe ich eine Patientin auf die Station verlegt und von den sechs internistischen Betten sind jetzt gerade noch… sechs belegt.
Schnick Schnack Schnuck
Da trudelt der nächste RTW ein und der Notfallsanitäter kommt auf mich zu.
„Ich bring Euch den Herrn Frost. Glaube aber, er ist chirurgisch“, sagt er schulterzuckend und wir holen die diensthabende Chirurgin hinzu, damit die Übergabe nicht zweimal geschehen muss. Effizienz ist alles in der Medizin.
Die Chirurgin Frau Dr. Turf gesellt sich der illustren Runde hinzu und Herr Sanitäter berichtet.
„Herr Frost lag längere Zeit auf dem Balkon im Schnee“, erklärt er. „Die Tochter hat ihn gefunden, als sie ihm zum Kaffee abholen wollte. Er muss gestürzt sein. Temperatur 33,6°Celcius, den müsst ihr mal aufwärmen. Wir haben schon eine erwärmte Infusion gegeben.“ Der Patient liegt auf der Trage, ist wach, ansprechbar und sein Körper in eine Decke eingewickelt.
"Herr Frost", sagt der Sanitäter zum Patienten. "Sie bleiben jetzt mal hier im Krankenhaus." Herr Frost schaut ihn nicht an und zupft an der Decke. "Mei Kopf dud weh", murmelt er.
Frau Dr. Turf ist ein bisschen genervt. Zustand nach Sturz bedeutet, dass sie als Chirurgin erst einmal die Verletzungen abklären muss. Allerdings ist sie dafür bekannt, dass sie gerne Patienten in andere Abteilungen turft, also "abschiebt".
Sie wendet sich an mich: „Ok, ich mache die Röntgenbilder, danach könnt ihr ihn haben zum Aufwärmen.“
Ich stelle mich schon darauf ein und überlege, wie ich eines der belegten Bett frei machen kann, denn erfahrungsgemäß hält sich Frau Dr. Turf an ihre Versprechen.
Es dauert nicht allzu lange, da kommt sie auf mich zu und berichtet: „Also da ist nichts, ihr könnt ihn jetzt aufwärmen. Röntgen Thorax war unauffällig, Becken auch, an den Extremitäten sind keine Verletzungen, er ist also nicht chirurgisch.“
„Kein CT vom Schädel?“, frage ich und wundere mich etwas, weil der Herr ja schließlich gestürzt ist, etwas von Kopfschmerzen murmelte und außerdem etwas desorientiert scheint, was aber auch auf die Kälte zurückzuführen sein kann.
„Nein, er hat keine Prellmarken und keine Verletzungen am Kopf."
Ziemlich desorientiert
„Hm aha“, sage ich und wir schieben Herrn Frost in ein kleines Untersuchungszimmer, weil ich erst einmal mit ihm sprechen will. Auch wenn ich nun schon von dem Sanitäter und der Chirurgin eine Übergabe bekam, mache ich mir immer selbst ein Bild.
„Guten Tag, Schwesterfraudoktor mein Name“, stelle ich mich vor. „Und wie ist Ihr Name?“, frage ich Herrn Frost.
„Herr Frost“, sagt Herr Frost.
„Können Sie mir sagen, was passiert ist?“
„Isch waas es ned“, sagt er, blickt starr geradeaus und fasst sich immer wieder ans Ohr. Ich stutze.
„Herr Frost, wo sind Sie denn gerade?“
„Isch waas es ned. Mei Ohr dud mir weh.“ Ich werde etwas nervös.
„Herr Frost? Welches Jahr haben wir denn?“
Herr Frost nestelt an seinem Ohr herum. Ich schaue meine Pflegekraft an, sie schaut mich an.
„Ich hätte gerne JETZT ein CT vom Schädel“, sage ich ihr, da löst sie schon die Bremsen der Trage, weil wir uns manchmal ohne Worte verstehen.
„Melde Du an, ich bringe ihn rüber“, antwortet sie und rollt los, während ich die Radiologin kontaktiere.
Zerbrich dir nicht den Kopf
Es dauert keine zehn Minuten, da ruft mich die Radiologin an und berichtet, Herr Frost habe eine Schädelbasisfraktur, einen Bruch am Hinterhaupt und eine Contrecoup-Blutung frontal. Er muss also im Schnee ausgerutscht und auf den Hinterkopf geknallt sein. Dabei ist sein Gehirn durch den Schwung nach vorne geschleudert worden und an der Gegenseite des Aufpralls sind durch die Scherkräfte Blutgefäße gerissen.
„Scheiße“, sage ich eloquent und nehme das Telefon in die Hand. Eigentlich wäre das nun Aufgabe von Dr. Turf, aber erstens muss es nun schnell gehen und zweitens habe ich keine Lust auf die Diskussion. Also melde ich Herrn Frost in der nächsten Neurochirurgie an und berichte telefonisch die Krankengeschichte sowie den radiologischen Befund, als Dr. Turf plötzlich höchst freundlich neben mir steht.
„Du hast ein CT gemacht? Wieso?“, fragt sie und scheint wirklich interessiert zu sein, wie ich auf diesen Trichter gekommen bin.
„Der Patient war desorientiert, zur Zeit, zum Ort und zum Geschehen, und er fasste sich immer wieder ans Ohr.“
Wie mein ehemaliger Oberarzt zu sagen pflegte: "Dann schreiten wir zum Äußersten und sprechen mit dem Patienten." Ein sehr effektives Verfahren.
„Ich schreibe den Verlegungsbrief, ok?“ bietet sie an und ich weiß, dass sie echt Ärger bekäme, wenn herauskäme, dass „ihr“ Patient von einer internistischen Assistenzärztin verlegt worden wäre.
Aber was habe ich davon, wenn sie Probleme bekommt. Außerdem geht es in Zusammenarbeit schneller und ich bin natürlich froh, dass ich mir den Schreibkram spare.
Und wie ging es weiter?
Der Herr wurde zügig verlegt ("geturft") und der Alltag in der Notaufnahme ging weiter. Ein halbes Jahr später war ich als Stationsärztin eingeteilt und bekam einen Patienten, der mir bekannt vorkam. Es war Herr Frost. Er hatte den Sturz und die Verletzungen überlebt, allerdings posttraumatisch durch das Schädelhirntrauma ein SIADH (Schwartz-Bartter-Syndrom) entwickelt, weswegen er zu uns kam. Das ist eine endokrinologische Störung im Wasserhaushalt, klassisch internistisch also. Turfen ausgeschlossen.
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Bild: Besnopile, Pixabay
Gender: Auch, wenn ich für den besseren Lesefluss die maskuline Form verwende, meine ich immer alle Geschlechter.
Anonymität: Natürlich sind Namen und Situationen verändert.