Ein Tag in der Wurstabteilung

Ich bin noch einmal 16 Jahre alt (um Gottes Willen, wer braucht das schon).

 

Ich besuche die neunte Klasse eines bayerischen Gymnasiums und müsste eigentlich für die Schule lernen, denn ich habe grauenhaft Noten und bin gerade zurück gestuft worden. Aber das Lernen bringt mir kein Geld, und das brauche ich.

 

Denn von zu Hause kriege ich keines, und wie jeder normale Teenager habe ich Wünsche: ich mache einen Roller-Führerschein, damit ich mobil bin und meine Freunde treffen kann, die in der Stadt leben. Die Yamaha Neo kostet Geld. Benzin kostet ebenfalls Geld.

 

Ich liebe Klamotten, mein Taekwon-Do, mein Multikulti-Jugendzentrum (in den 90er-Jahren herrschte die Kriege in Jugoslawien) und Kaffeeklatsch mit meiner besten Freundin. (Es ist unglaublich, wie lange man damals reden konnte und was man sich beim dritten Latte Macchiato noch zu erzählen hatte.) 

 

Also brauche ich einen Job. Zwar habe ich vorher bereits einige Jahre das Wochenblättchen ausgetragen, aber nun mit 16 Jahren strebe ich nach Höherem. Der Supermarkt bei mir um die Ecke sucht für 10 Stunden in der Woche eine Hilfskraft für die Wurst – und Käsetheke. Na also. 

Ich will diesen Job unbedingt und nerve den Chef alle zwei Tage, ob er sich schon für einen Bewerber (10 an der Zahl, habe ich später erfahren) entschieden hat. Meine Penetranz zahlt sich aus und ich bekomme den Job.

 

Ab dem Zeitpunkt heißt es: an zwei Nachmittagen von 14:30 Uhr bis 18:30 Uhr und jeden zweiten Samstag von 6:30 Uhr bis 13:30 Uhr freundlichst an der Theke stehen. 

Damals hatten die Geschäfte übrigens abends um 18:00 Uhr und samstags um 13:00 Uhr geschlossen. 

 

Ich verdiene die für mein zartes Alter unglaubliche Summe von 630 DM. Dafür ackere ich gerne.

 

Das an sich ist für meine Noten eigentlich unvorteilhaft, aber wenigstens liege ich finanziell niemandem mehr auf der Tasche.

 

 

Ein klassischer Samstag

 

Es ist 5:30 Uhr und ich war am Abend vorher mit meinen Freunden unterwegs.  An Bushaltestellen abhängen und so, was man in den 90ern eben macht. Wir teilen uns den Walkman-Kopfhörer und trinken Schnellrestaurant-Milchshakes. Wir waren immer sehr friedlich, Alkohol getrunken habe ich nie und ich musste schließlich auch um 22:00 Uhr zu Hause sein. Trotzdem fiel mir das frühe Aufstehen damals unglaublich schwer. Im Gegensatz zu heute, wo ich mich freue, mehr Zeit am Tag zu haben.

 

Um 6:30 Uhr gehe ich durch den Hintereingang und das Lager in den Supermarkt.

Es riecht, wie Supermarktlager eben so riechen: eine Vielzahl von Gerüchen von Wurst, Käse, Waschmittel umgibt mich und die Mülltonnen vor dem großen Tor tun ihr Übriges. Gerade kommt der Laster mit der Brotlieferung angefahren und zwischen all den Mief mischt sich der verführerische Geruch von frisch gebackenem Brot.

 

Nachdem ich mir mein hübsches, rotweißes Kittelchen ubergeworfen habe, gehe ich in das Kühlhaus und hole die großen, roten Kisten mit Wurst heraus, ziehe Handschuhe an und nehme die Schneidemaschine in Beschlag. Dann wird geschnitten. Immer schöne Stapel: Gelbwurst, Bierschinken, Presskopf, Zunge, Salami... 

 

Der Metzger läuft an mir vorbei und grüßt mich mit einem phantasievollen „Hallo Uli mit Kuli“ und meine Vorgesetzte mit „Sibylle nimmt die Pille.“

 

Ich arbeite meist mit zwei Fachkräften und einem Azubi/einer Azubine zusammen, so dass die Käse-und Brottheke sowie die Wursttheke voll besetzt sind. Eine Person ist Springer und kümmert sich parallel um das Leergut und die „MoPro“, die Molkereiprodukte. 

 

Während ich so die Theke bestücke, schielt Radoslaw, der Azubi, feixend um die Ecke und fragt mich mit Blick auf den großen Bierschinken in meiner Hand: „Uli-Schnulli, magst Du große Würste?“ 

Ich blicke ihm tief in die Augen und schneide langsam und genussvoll die nächste Scheibe ab. Grinsend verschwindet er im Lager.

 

Es ist gleich 8 Uhr und die ersten Kunden stehen schon vor der Tür, denn es könnte ja sein, dass gleich alles ausverkauft sein wird. 

 

Die Schlange vor der Theke wird länger und die Menschen kaufen so unterschiedlich ein: 

 

Der Familienvater kauft Massen an Wurst und die obligatorischen 100g jungen Gouda, damit keiner behaupten kann, er esse keinen Käse.

 

Die figurbewusste Mittvierzigerin kauft ein paar Gramm Geflügelmortadella, etwas Frischkäse und zwei Körnerbrötchen. 

 

Der Student von nebenan kauft immer ein einziges Leberwurst-Brötchen und lehnt lässig an der Theke, während er mir eine Rose hinhält. Romantik pur an der Wursttheke. Ich finde ihn eklig. Im Hintergrund stürmt die Freundin aus dem Laden. Der Kavalier lässt die Rose fallen und stürmt hinterher.

 

Um 10:00 Uhr habe ich 15 Minuten Pause und die Fachkräfte achten penibel darauf, dass wir jungen Leute unsere Pausen einhalten. 

 

Um 10:15 Uhr geht es weiter mit: 

  • Was darf es sein?
  • Darf‘s ein Scheibchen mehr sein?
  • Es sind jetzt 104 statt 100g - lieber eine Scheibe weg machen, ok. Nein, eine halbe Scheibe kann ich leider nicht verkaufen.
  • Den Fettrand am Parmaschinken darf ich leider nicht entfernen, er gehört zum Schinken.
  • 5 Brötchen, sehr gerne. Ich habe 6 im Angebot (Radoslaw bricht vor Lachen fast in die Auslage, Kunde grinst, ich werde purpurrot).
  • Manchego ist ein Schafskäse, jawohl.
  • Sesambrötchen sind leider aus.
  • Nur zwei Scheibchen der hauchdünnen italienischen Salami, herzlich gerne.
  • Alten Gouda kann ich leider nur am Stück verkaufen, er lässt sich nicht gut in Scheiben schneiden. 

 

Um 13:00 Uhr habe ich Krämpfe in meiner Dienstleistungslächelmuskulatur und wir räumen die Theke aus, putzen die Maschinen und die Scheiben.

Der alte, zahnlose Metzger haut mir beim Putzen auf den Hintern und wird danach wochenlang nicht mit mir reden, weil er durch meinen Gang zum Chef eine Abmahnung bekommen haben wird. 

 

Um 13:30 Uhr sitze ich auf meinem Roller und weiß, dass ich heute wieder Geld verdient habe. 

 

Fazit

 

Der Job hat mich geprägt. Die Arbeitszeiten, der Stress neben der Schule, die Arbeit als Dienstleisterin und als Hilfskraft. Was will man mehr, wenn man Ärztin sein möchte. 

 

Es entwickelten sich Freundschaften und der Zusammenhalt unter uns "Azubis", zu denen ich gehörte, war großartig. Oft denke ich an Dani, mit der ich jahrelang befreundet war, Sascha und Radoslaw, mit denen wir nur Blödsinn machten und Sibylle, die als nur etwas ältere Vorgesetzte ebenfalls zur Freundin wurde. 

 

 

Insgesamt habe ich diesen Job vier Jahre lang gemacht und erst kurz vor dem Abi gekündigt, damit ich wenigstens sieben Tage voll lernen konnte

 

Unmittelbar nach dem Abi suchte ich mir einen Job in einer großen Studentenkneipe. Das könnt ihr demnächst hier lesen.