· 

Ich bin ein Sack

Es ist der erste Tag nach meinem Urlaub und es erscheint mir, als hätten viele Patienten darauf gewartet, dass ich wieder da bin. Das freut mich einerseits, andrerseits bin ich auch das eine oder andere Mal überfordert. Denn ich bin ein Vakuum, ein Sack, ein Seelenmülleimer. Was man mir erzählt, wandert in den Sack und bleibt auch dort. 

 

Deswegen habe ich die folgenden Situationen zeitlich und personell abgewandelt, der Anonymität und Schweigepflicht wegen. Sie sind exemplarisch. So oder ähnlich habe ich sie in den letzten Jahren erlebt. 

 

 

 

Was in den Sack hineinkommt… 

 

 

Da kommt der Vater, der entsetzt ist erfahren zu haben, dass sein Sohn Drogen nimmt. Wir reden eine halbe Stunde und die anderen Patienten müssen warten. „Mein Sohn vertraut nur Ihnen.“ Ich fühle mich geehrt und unter Druck gesetzt. Ambivalenz lässt grüßen. 

 

Dann kommt eine Frau, die ihr Leben lang hart geschuftet hat und nun kurz vor der Rente in die Arbeitslosigkeit rutscht, weil das Krankengeld ausläuft. Sie hat nach 45 Jahren einfach keine Kraft mehr, weiter zu arbeiten. 

 

Ein junger Mann hat den Anwalt eingeschaltet, weil die Arbeitgeber ihn systematisch aus der Firma ekeln. 

 

Eine junge Frau hat Schlafstörungen und bricht weinend zusammen, bittet um Klinikeinweisung. Sie wisse sonst nicht, ob sie sich etwas antue. 

 

Eine Frau wird von ihrem Mann geschlagen, kann sich aber aus finanzieller Not nicht trennen. Nun wartet sie auf die Befreiung durch seinen natürlichen, krankheitsbedingen Tod. 

 

 

… kommt nicht wieder hinaus

 

Manchmal mache ich keine Medizin. Manchmal mache ich nur Lebenshilfe. Dabei bin ich keine Psychologin und keine Psychotherapeutin. Ich bin nicht einmal uralt und lebenserfahren. Aber ich bin ein Sack. Einmal alle Sorgen hier hinein bitte, nur nicht drängeln, schön der Reihe nach! Das kann ich gut. Zuhören, Auffangen. Manchmal nehme ich Menschen in den Arm. 

 

Den Sack nehme ich dann mit nach Hause. Dort modert er manchmal so vor sich hin. 

 

„Du musst den Job nach Feierabend einfach ausblenden.“ Ne, geht leider nicht. Den Schalter habe ich noch nicht gefunden. Gelegentlich hilft exzessives Biken oder Schwimmen, das schaltet den Kopf aus. 

 

Was im Sack ist, bleibt auch dort. Aber ich muss ein wenig Platz drin lassen. Denn meine Kinder brauchen ihn auch. Und meine Freunde und meine Familie. Und manchmal hätte ich gerne meinen persönlichen Sack, den ich mit meinen Sorgen beladen kann. 

 

 

 

Was ich in meinen beruflichen Sack packen würde

 

 

Wenn ich erfahre, dass Patienten sterben.

Ich denke an den Patienten, den ich mit unklarem Gewichtsverlust eingewiesen habe und der bis heute nicht wieder auftauchte.

Ich denke an den alten Mann, der im Ultraschallraum seine Unterhose ein Stück zu weit auszog und sich im Gespräch mit mir anfasste, während ich die Absurdität der Situation nicht greifen konnte. 

Ich denke an die Frau in der Notaufnahme, die von ihrem Mann mit dem Messer attackiert und beinahe getötet wurde und das Gesicht voller Schnitte war. 

Ich denke an die junge Frau mit Kleinkind, die ich mit schweren cerebralen Gefäßfehlbildungen in die Uniklinik schickte. 

 

Und an viele andere Geschichten, die das Arztdasein so mit sich bringt. Augen auf bei der Sack - ach, nein, Berufswahl. 

 

 

 

 Bild: Pixabay, ChervanzPhotography