Blickdiagnostik to go

Das Tolle an der Allgemeinmedizin ist ja, dass man das gesamte Spektrum der Medizin beackert. Von Allergie bis Zecke ist alles dabei, mit Abstechern über die kleine Chirurgie, Mikrobiologie, Neurologie, Psychiatrie und Onkologie. „Einmal alles, mit scharf“ , den Spruch kennt jeder vom Döner-Restaurant unseres Vertrauens. Trifft hier irgendwie auch zu. 

 

Außerdem muss man als Hausarzt lernen, sich innerhalb weniger Minuten einen Eindruck vom Zustand des Patienten zu machen und das Krankheitsbild einzuordnen. Ist es banal, bedenklich oder bedrohlich? Sind so genannte „Red Flags“ - also Warnzeichen - vorhanden, muss der Patient ins Krankenhaus oder hilft „Abwarten und Tee trinken“?

 

Das sorgt im Laufe der Jahre dafür, dass man einen geschärften Blick für die Symptome der Menschen bekommt und diesen diagnostischen Blick auch nicht ablegen kann, wenn man in seiner Freizeit draußen unterwegs ist.

 

Von Autoimmunerkrankung bis Wernicke

 

Da sieht man im Supermarkt den Mann, der mit leicht nach innen gedrehter Fußspitze durch die Regale läuft und das Bein im Halbkreis schwingend hinter sich herzieht. Er hatte wahrscheinlich einen Schlaganfall. Diesen Gang nennt man Wernicke-Gang und er ist klassisch für jemanden, der eine Halbseitenlähmung hatte und das Laufen wieder lernen musste.

 

Die Dame vor mir an der Kasse ist sehr schmal und hat leicht nach vorne stehende Augen. Sie wirkt nervös. Ich denke an eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, den so genannten M. Basedow. Ob sie in Behandlung ist? Ob sie davon weiß? Wie man richtig darauf reagieren soll, weiß ich manchmal auch nicht. Irgendwie finde ich es übergriffig, sie als fremde Frau in der Supermarktkasse darauf anzusprechen.

 

Im Urlaub sehe ich mal einen alten Mann, der sich täglich bis zur knusprigen Urlaubsbräune in die Sonne legt, inklusive kokosölglänzender Marinade. Im Gesicht unter dem linken Auge prangt ein riesiger, schwarzer Fleck. So auffällig, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass er damit nicht beim Arzt gewesen sein könnte. Vielleicht dachte er sich: „Jetzt ist es sowieso schon zu spät“? 

 

Ich sehe beim Radfahren eine Frau über die Felder spazieren. Sie ist zu alt, um schwanger sein zu können. Aber genau so sieht sie aus. Eine gigantische Kugel schiebt sie vor sich her, während sie langsam, Schritt für Schritt, in ihren Crogs über den Feldweg  tappst. Ihr alter Hunde trottet hinter ihr her. Sie ist nicht schlank, aber auch nicht wirklich dick, aber der Bauch erscheint mir zu rund. Vielleicht hat sie Aszites (Bauchwasser). Vielleicht einen Tumor. Vielleicht auch einfach nur eine ungünstige Fettverteilung, aber ich kann ihr ja nicht unter den Pulli schauen. „Verzeihung, haben Sie Leberschäden?“ Hm.

 

Ich gehe zur Post. Ein alter Mann läuft vor mir die Treppenstufen hinauf, er ist stark übergewichtig, hat O-Beine und wankt mit dem Oberkörper beim Laufen hin und her, während er die Beine hebt.  Rechtes Bein anheben, Oberkörper nach links. Linkes Bein anheben, Oberkörper nach rechts. Wie ein Pendel.  „Hüftarthrose“, denke ich bei mir.

 

Reden oder Schweigen?

 

Das geht bestimmt anderen Menschen in ihren Beruf ähnlich. Man geht mit geschärften Blick für seine Profession, sei es Medizin oder ein anderer Beruf, durch die Welt.

 

Aber manchmal frage ich mich, wie weit unsere Verantwortung als Ärzte geht, wenn wir diese Dinge bei fremden Menschen entdecken. Ansprechen? Ich empfinde das irgendwie als übergriffig und denke, dass die Leute bestimmt bei ihren Ärzten in Behandlung sind. Aber vielleicht habe ich damit auch jemandem nicht geholfen. Vielleicht weiß dieser Mensch nicht, dass ihm etwas fehlt. 

 

Der Mann mit dem Wernicke-Gang weiß natürlich, dass er einen Schlaganfall hatte. Eine Halbseitenlähmung geht nicht unbemerkt an einem vorüber. Aber die Frau mit den hervorstehenden Augen wundert sich vielleicht, warum sie immer so nervös ist und Gewicht verliert. Oder die Dame mit dem dicken Bauch, warum sie immer runder wird. 

 

Kann man seinen Beruf ausschalten und "Feierabend" haben?

Angesprochen habe ich noch nie jemanden auf seine Symptome. Ich kenne die richtige Lösung noch nicht.

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Bild: Pixabay, GraphicMama-team