"Fra Dokta, mei Rügge!"

Laut "Nationaler Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz" der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlich Medizinischen Fachgesellschaften) sind Rückenschmerzen unterschiedlich starke Schmerzen des menschlichen Rückens, die ganz verschiedene Ursachen haben können. Und die meist von alleine wieder weggehen.

 

Und damit sind wir nun viel schlauer als vorher und ich beende meinen Blogbeitrag. Wieder was gelernt, ne?

 

Aber gut, ich will mal nicht so sein und gehe vielleicht doch noch ein bisschen mehr in die Tiefe. Schließlich leiden etwa 80 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an Rückenschmerzen, und 25 Prozent der Frauen und fast 17 Prozent der Männer haben chronische Schmerzen im Rücken. Damit sind Rückenschmerzen einer der häufigsten Gründe, warum Patienten einen Hausarzt konsultieren. 

 

Bezüglich des Leidensdruckes scheiden sich hier die Geister: was für uns Ärzte noch hinnehmbar und unproblematisch ist, kann bei Patienten einen starken Leidensdruck hervorrufen. Wo wir manchmal sagen: „Da warten wir einfach mal ab“, trifft man häufig auf Unverständnis, schließlich sind die Schmerzen da und stark und Patienten benötigen Hilfe. „Der macht ja gar nichts, der Hausarzt“, hört oder liest man des Öfteren, wenn eben einfach abgewartet wird. 

 

Deswegen möchte ich gerne ein bisschen aufklären. Über Rückenschmerzen im Allgemeinen und im Speziellen. Was wichtig ist zu beachten, wann gehandelt werden muss, welche Therapie hilft und welche nicht.

 

Spoiler: Homöopathie hilft nicht. Die Rückenschmerzen vergehen meist von alleine.

 

Legen wir mit ein zwei Beispielen los.

 

Nicht-spezifischer und spezifischer Kreuzschmerz 

 

Fall 1:

Ein jüngerer Mann, groß und kräftig, Typ Wikinger, in der Kleidung eines Garten- und Landschaftsbauunternehmens, kam in mein Sprechzimmer gelaufen. Schon beim Hereinkommen sah ich, dass er leicht nach vornüber gebeugt ging, die rechte Hand auf den unteren Rücken gelegt. 

 

„Ich setz mich ma net. Fra Doktor, mei Rügge“, sagte er. Dieser Satz ist ein Klassiker. Mehr braucht man hier in Hessen nicht zu sagen, um verstanden zu werden.

 

„Fra Doktor, mei Rügge“, das heißt: „Schönen guten Tag. Ich habe mich gestern bei der Arbeit verhoben, jetzt habe ich Schmerzen im unteren Rücken, hätte gerne eine Spritze und eine Krankmeldung für heute. Danke.“

 

Manchmal heißt der Satz aber auch: „Frau Doktor, ich habe ja seit Jahren Schmerzen im Rücken. Sie wissen ja, die Bandscheibe damals. Aber heute ist es besonders schlimm. Ich würde gerne mal wieder meine Wirbelsäule röntgen lassen und ein Rezept für die Schmerztabletten und die Physiotherapie.“

 

Diese zwei Klassiker in der hausärztlichen Praxis zeigen gleich zwei große Tabus: die heiß geliebte Spritze und das mehrfache Durchleuchten der Wirbelsäule. 

 

Auch der junge Patient fragte mich: „Kann man da nicht mal so eine Spritze…?“

Der Leidensdruck ist groß, die Arbeit ruft, und viele Menschen möchten schnell wieder funktionieren. Verständlich. Aber ich musste ablehnen. Die berühmte Spritze mit einem Schmerzmittel und einem Cortison, die meist in den Gesäßmuskel appliziert wird, kann schwere Folgen haben. Spritzenabszesse, Lähmungen, Nervenschäden und sogar eine gefährliche nekrotisierende Fasziitis können auftreten. Die schmerzstillende Wirkung bei oral eingenommenen Medikamenten erfolgt im Vergleich zur Spritze nur leicht verzögert. Dafür geht die orale Medikation aber mit erheblich weniger Nebenwirkungen einhergeht. Um es kurz zu machen: die Schmerzspritze in den Muskel ist out.

 

Ich untersuchte meinen Patienten, konnte aber keine Warnhinweise für eine schwere Erkrankung feststellen: keine Lähmungen, keine Funktionsstörungen von Blase oder Darm, die auf einen Bandscheibenvorfall hindeuten könnten, kein Fieber, keine tief sitzenden nächtlichen Kreuzschmerzen. Auch seine Krankengeschichte gab preis, dass er sich bei der Arbeit „verhoben“ hatte. Ich versorgte ihn kurzfristig mit Schmerzmedikation, empfahl Wärme für die verspannten Muskeln, Bewegung und Abwarten. 

 

Fall 2: 

Eine Frau, Mitte 50, ging zu ihrem Hausarzt, weil sie seit Wochen zunehmende Rückenschmerzen hatte. Es fing sachte an, wurde immer schlimmer und nach zehn Wochen konnte sie nicht mehr liegen, nicht mehr schlafen und vor Schmerzen nicht mehr laufen. Nachts war es besonders schlimm.

Zu Beginn hatte man die übliche Behandlung durchgeführt: Schmerzmittel, Physiotherapie, irgendwann ein Röntgen der Wirbelsäule. Nach drei Monaten der Schmerzen hatte man ein CT anfertigen lassen. Auch das war laut dem behandelten Hausarzt unauffällig gewesen. Irgendwann wurde sie blass und schlapp. Und immer schwächer. Sie kam ins Krankenhaus, wo ein Hämoglobin-Wert von 6,0 g/dl festgestellt wurde, was etwa der Hälfte des Normwertes entspricht. Sie hatte eine ausgeprägte Blutarmut, mutmaßlich seit Monaten. Abermals röntgte man die Wirbelsäule und diesmal sah man multiple Deckplattenimpressionsfrakturen. Sprich: die Wirbelkörper waren eingebrochen. Als man sich die CT-Bilder noch mal zu Gemüte führte, sah man, dass sie bei der ersten Aufnahme bereits Metastasen hatte, welche die Ursache für die Frakturen waren.

Die Patientin war meine Mutter. 

 

Akute Rückenschmerzen - Red Flags 

 

So dramatisch wie bei meiner Mutter verläuft es nun zum Glück selten. Viele Faktoren führten dazu, dass ihre Diagnostik sich verzögert hatte. Darauf kann ich jetzt hier nicht eingehen. Aber es hat mich geprägt und ich schaue bei Rückenschmerzen, die nicht vergehen wollen, genau hin. 

 

Rückenschmerzen teilt man in nicht-spezifische und spezifische Kreuzschmerzen ein.

 

Fall 1 ist ein Klassiker aus der Hausarztpraxis: ein unspezifischer Kreuzschmerz, für den man keine klare Ursache findet. Quasi eine Ausschlussdiagnose, der meist Muskelverspannungen, Überlastungen und Fehlhaltungen zugrunde liegen. Häufig kommen Rückenschmerzen insbesondere bei Schreibtischtätern vor, denn der Mensch ist nunmal nicht zum Sitzen gemacht.  

 

Fall 2 beschreibt einen spezifischen Kreuzschmerz, dem eine klare Diagnose zugeordnet werden kann.

Für uns in der Praxis ist es wichtig, die spezifischen Kreuzschmerzen herauszufischen und die richtige Therapie einzuleiten. Das ist manchmal nicht so leicht, denn es gibt ungefähr zehnhundert (oder eine Zillionen) mögliche Erkrankungen, die Rückenschmerzen verursachen: Frakturen, Infektionen, Arthrosen, Arthritiden, Morbus Bechterew, Tumoren, Neuropathien. Rückenschmerzen können auch von Nierenerkrankungen kommen oder durch einen Herpes zoster verursacht werden. Bei Frauen muss außerdem erfragt werden, ob sie evtl. gerade ihre Periode haben, prämenstruell sind oder den Eisprung haben. Denn im kleinen Becken der Frau können mechanische und nervöse Störfaktoren vorliegen, die Rückenschmerzen auslösen. 

 

Um die Diagnose leichter zu finden, gibt es sogenannte Red Flags, die wir abfragen, also wichtige Warnhinweise:

Gibt es eine neurologische Begleitsymptomatik, wie beispielsweise Lähmungserscheinungen? Kam es in jüngerer Vergangenheit zu einem Trauma? Ist eine Osteoporose bekannt? Liegt ein höheres Alter vor oder eine bekannte Tumorerkrankung? Gibt es sonstige Hinweise auf eine ernste Grunderkrankung, beispielsweise Gewichtsverlust oder Nachtschweiß? Starker nächtlicher Schmerz muss einen aufhorchen und an Infektionen oder auch Tumore denken lassen. Ist eine rheumatische Erkrankung bekannt? Gibt es Gefühlsstörungen in den Beinen oder plötzlich einsetzende Inkontinenz?

 

Sind alle diese Punkte nicht zutreffend, kann man erst einmal ein bisschen abwarten. Ich hatte einen tollen Oberarzt in der Klinik, der sagte gerne: „Wir werden nun besonders aggressiv zuwarten!“

 

Dieses Abwarten sorgt gerne für Irritationen. Akute Rückenschmerzen können bis zu sechs Wochen anhalten und weitere diagnostische Maßnahmen werden erst nach diesen (vier bis) sechs Wochen eingeleitet, es sei denn, wir finden die beschriebenen Warnhinweise oder der Schmerz verschlechtert sich rapide. Eine Wiedervorstellung sollte nach zwei bis vier Wochen erfolgen. 

 

Natürlich ist es auch wichtig zu eruieren, wie stark die Schmerzen sind, ob und wohin sie ausstrahlen und wie lange sie schon anhalten. 

 

Chronische Rückenschmerzen - Yellow Flags

 

Rückenschmerzen können auch chronisch werden. Um das Risiko abzuschätzen, ob akute Rückenschmerzen in eine chronische Form übergehen könnten, gibt es auch hier wieder Warnflaggen. Diesmal sind sie gelb.

Diese sogenannten Yellow Flags sind berufliche, psychische oder psychosoziale Hürden, die Risikofaktoren für eine Chronifizierung darstellen. Zum Beispiel bekannte Depressivität, Stress im Arbeitsleben, körperliche Schwerstarbeit, berufliche Unzufriedenheit, ausgeprägtes Vermeidungsverhalten, u.a. Die Bedeutung der Psyche auf unsere Gesundheit ist groß und äußert sich gerne in somatischen (körperlichen) Schmerzen. 

 

Auch falsche Therapieansätze von Seiten der Ärzte können für eine Chronifizierung sorgen: zu lange Krankschreibungen, Förderung passiver Therapiekonzepte (zu viel Schonung), ein übertriebener Einsatz diagnostischer Maßnahmen, die dem Patienten suggerieren: "Ich muss wohl schwer krank sein!“ Daher gilt auch, übermäßige bildgebende Untersuchungen zu vermeiden. Ein erneutes Röntgenbild bei gleich bleibenden Beschwerden bringt keinen diagnostischen Benefit, erhöht aber die Strahlenbelastung. 

 

Häufig werden auch harmlose radiologische Befunde überinterpretiert, wenn beispielsweise ein kleiner Bandscheibenvorfall ohne Kontakt zur Nervenwurzel als Kern allen Übels wahrgenommen wird. Der Bandscheibenvorfall war wahrscheinlich schon lange vorhanden und ist nicht die Ursache für die Rückenschmerzen. Dass er gefunden wurde, ist nun reiner Zufall.

 

Wenn die sogenannten Red Flags gefunden werden, oder Rückenschmerzen zu lange anhalten, wird ein MRT oder ein CT, je nach Verdachtsdiagnose, durchgeführt. Bei Verdacht auf andere Grunderkrankungen (Tumor, Entzündung, Rheuma), wird Blut abgenommen und die weitere Diagnostik/Therapie bei einem Facharzt eingeleitet.

 

Was nun? Viel Bewegung, wenige Tabletten

 

Spezifische Rückenschmerzen, also die mit einer greifbaren Diagnose, müssen dementsprechend behandelt werden. Das aufzudröseln würde allerdings den Rahmen des Blogs sprengen. 

 

Bei nicht spezifischen Kreuzschmerzen unterscheidet man zwischen den akuten (<6 Wochen) und den chronischen (>12 Wochen) Rückenschmerzen.

 

Akute Kreuzschmerzen behandelt man in der Regel gar nicht viel. Wichtig ist, dem Patienten die Ursache seiner Schmerzen zu erläutern, eine ausgeprägte Schonhaltung zu vermeiden und dem Patienten seine Alltagsaktivität zu erhalten. Physiotherapie,  Akupunktur und Elektrotherapie werden bei akuten, unspezifischen Rückenschmerzen ganz klar nicht empfohlen. Wärmetherapie kann versucht werden, muss bei Schmerzsteigerung aber sofort beendet werden. 

Medikamentös werden gegen die Schmerzen NSAR (Ibuprofen, Diclofenac, Naproxen) gegeben, eine Dauerbehandlung sollte allerdings vermieden werden. Paracetamol hat sich in Studien nicht besser als ein Placebo erwiesen. 

 

Opioide wie Tramadol und Tilidin können kurzfristig eingesetzt werden. Im Rahmen der Langzeittherapie profitiert nur jeder vierte Patient, daher muss eine langfristige Gabe regelmäßig geprüft werden. 

 

Noch stärkere Opioide (Fentanyl, Morphin, Tapentadol) sollten ebenfalls nur im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzepts bei chronischen Beschwerden verordnet werden, die Zusammenarbeit mit einem Schmerztherapeuten ist an dieser Stelle wichtig. 

 

Ferner sind bei chronischen Rückenschmerzen die Bewegungstherapie sowie die Erfassung und Behandlung von psychischen und psychosozialen Ursachen (Stress, Arbeit, Depression) die  wichtigsten Bausteine. Entspannungstherapie und Rückenschule wird empfohlen, auch multimodale Therapieprogramme zeigen gute Ergebnisse. Zu diesen gehört häufig auch eine Verhaltenstherapie.

 

Was nicht hilft und wovon in den Leitlinien auch kein Wort steht: Homöopathie. Der Effekt der Kügelchen ist ein reiner Placeboeffekt, der dadurch verstärkt wird, dass die meisten Rückenschmerzen sich nach einiger Zeit von alleine verabschieden. Kinesiotaping und Elektrotherapie werden in den Leitlinien ebenfalls nicht empfohlen.  

 

Das Fazit aus dem zugegebenermaßen etwas trockenen Artikel: Rückenschmerzen können erheblichen Leidensdruck verursachen und machen vielen Menschen Angst. Schnell wird an etwas Bösartiges, an einen Bandscheibenvorfall oder an Rheuma gedacht, aber in der Regel liegen harmlose Muskelverspannungen und Überlastungen vor. Bewegung und Rückentraining sind Prävention und Therapie in einem.

 

 

Wer rastet, der rostet - das gilt auch für unseren Rücken.

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Quellen:

https://www.kvb.de/fileadmin/kvb/dokumente/Praxis/Verordnung/VO-aktuell/2015/KVB-VA-150213-WIS-Diclo-Dexa-Injektionen.pdf

https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Leitlinien/Nationale_Versorgungs-Leitlinie/nvl-007f1_S3_Kreuzschmerz_2019-04.pdf

https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-007k_S3_Kreuzschmerz_2018-02.pdf

https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Leitlinien/Nationale_Versorgungs-Leitlinie/nvl-007f1_S3_Kreuzschmerz_2019-04.pdf

https://www.allgemeinarzt-online.de/a/therapie-von-rueckenschmerzen-das-richtige-mass-finden-2038343

 

 

Bild: Pixabay, LillyCantabile