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Appendizitis - nicht so glasklar, wie man denkt

Es ist schon etwas länger her, bestimmt zwei Jahre, da kam eine Patientin mit Bauchschmerzen zu mir in die Praxis. Die Mittvierzigerin lief etwas gekrümmt, hielt die Hand in die rechte Seite gestemmt und nahm in Zeitlupe auf dem Stuhl Platz.

 

„Ich habe seit drei Tagen Bauchschmerzen“, erklärte sie mir stockend. „Zwischendurch war es deutlich besser, eigentlich fast weg. Aber seit gestern sind die Schmerzen schlimmer, und ich habe Fieber bekommen.“

 

Ihre ganze Erscheinung suggerierte mir: Sie hat wirklich starke Schmerzen. Sie war eine klassische Bauchpatientin. 

 

Soll heißen: Meist sieht man seinen Patienten auf den ersten Blick an, ob die Bauchschmerzen harmlos oder ernst sind. Denn wenn starke Bauchschmerzen auftreten, halten Menschen ihren Bauch, ziehen die Beine an, schließen beim Liegen die Augen oder drehen sich auf die Seite. Das Gesicht zeigt sich schmerzverzerrt, die Sprache geht keuchend, stockend. Oft sieht man kleine Schweißperlen auf der Stirn und die Patienten sind blass. Dann ist es allerdings auch schon höchste Eisenbahn, bzw.  Rettungswagen. 

 

Wenn ein Patient entspannt auf der Untersuchungsliege liegt, die Beine locker ausgestreckt oder übereinander geschlagen, dann bin ich meist auch schon etwas entspannter. So fies weh scheint es dann nicht zu tun. 

 

Ich nahm die Patientin mit in den Ultraschallraum und ließ sie sich auf die Liege legen. Flaches Liegen war ihr kaum möglich, und als ich den Bauch abtastete, war er im rechten Unterbauch deutlich druckschmerzhaft und sie spannte unwillkürlich dagegen an. Im Ultraschall sah ich keine Appendix, denn sie ist nicht immer leicht zu sehen (Anm.: es heißt wirklich DIE Appendix). Aber ich sah einen Knäuel „Irgendwas“.

 

Manchmal ist es schon hilfreich, wenn man im Sonogramm sieht, dass dort etwas ist, was da nicht hingehört, um Sicherheit zu haben: Hier stimmt etwas nicht.

 

Ich wies die Patientin mit der Verdachtsdiagnose einer Appendizitis (Blinddarmentzündung) ins Krankenhaus ein. Eine Wochen später war sie wieder in der Praxis und empfing mich freudestrahlend mit den Worten: „Sie haben mich gerettet! Mein Blinddarm war geplatzt und mit dem Darm und der Bauchdecke verklebt.“

Das erklärte das geknäuelte Irgendwas, das ich im Ultraschall gesehen hatte. 

 

Dass sie zwischenzeitlich vollkommen schmerzfrei war, ist typisch für eine Perforation und nennt sich „Fauler Frieden“: Durch das „Platzen“ des Wurmfortsatzes lässt der Schmerz schlagartig nach, weil der durch den Eiter verursachte Druck nachlässt - wie bei einer Mittelohrentzündung, bei der das Trommelfell reißt und die Schmerzen automatisch vergehen, weil die Soße abfließen kann. Bei einer perforierten Appendizitis läuft sie dann allerdings nicht ins Freie, sondern in den Bauchraum, und richtet dort erheblichen Schaden an. Wie bei meiner Patientin kann es zu Verklebungen,  Bauchfellentzündungen und Entzündungen von Nachbarorganen kommen. Beispielsweise auch zu Harnleiterentzündungen, weswegen Blut und weiße Blutkörperchen im Urin auch bei einer Appendizitis vorkommen können. 

 

Was es sonst noch so sein kann 

 

Bei rechtsseitigen Unterbauchschmerzen denkt man ja irgendwie automatisch an eine Blinddarmentzündung, aber Schmerzen im Bauch können von allen möglichen Ursachen herrühren:

 

Ein verklemmter Pups, fiese Verstopfung, eine Magen-Darm-Grippe, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, akute Entzündungen, Meckel-Divertikel, eine Divertikulitis, Blasenentzündungen, Leistenbrüche, gynäkologische Ursachen... Die Liste mit den Differentialdiagnosen ist lang.

 

Das Aussortieren der nicht relevanten Diagnosen geschieht innerhalb von wenigen Sekunden durch eine Art Checkliste im Kopf: 

Passt das Alter des Patienten zur Verdachtsdiagnose? Ein junger Mensch wird eher keine Divertikulitis haben, sie kommt eher bei Älteren vor.

Eine Blasenentzündung wäre bei einer Frau wahrscheinlicher als bei Mann.

Ein Leistenbruch bei einem Mann wahrscheinlich als bei einer Frau. 

 

Dann muss man sich durchfragen und eine gute Anamnese durchführen: Wann war der letzte Stuhlgang? Ist Durchfall aufgetreten? Übelkeit und Erbrechen? Fieber? Gab es diese Art von Schmerzen schon öfter? Könnte eine Schwangerschaft vorliegen? Gibt es in der Schule oder am Arbeitsplatz bekannte Fälle von Magen-Darm-Grippe? Was wurde am Vortag gegessen? 

Damit kann eine Ursache schon recht gut eingegrenzt werden. 

 

Schließlich folgt die körperliche Untersuchung.

Ist der Bauch hart oder weich? Hört man Darmgeräusche oder ist es totenstill? Wo sitzt der Hauptpunkt des Schmerzes? Kann man Verhärtungen tasten? Gibt es eine Abwehrspannung? Bei Erwachsenen gehört auch die rektale Untersuchung dazu, bei Kindern sollte man davon Abstand nehmen. 

 

Appendizitis, manchmal glasklar. Aber nur manchmal

  

Für eine Blinddarmentzündung typisch ist ein Schmerz, der um den Bauchnabel beziehungsweise im Oberbauch beginnt, und sich innerhalb weniger Stunden in den rechten Unterbauch verlagert. Drückt man auf einer gedachten Verbindungslinie zwischen Beckenschaufel und Bauchnabel auf einen speziellen Punkt, der sich McBurney nennt, kleben die Patienten in der Regel vor Schmerzen an der Zimmerdecke. 

 

Auch das ruckartige Loslassen ist wirklich unschön für die Betroffenen und stellt ein weiteres Zeichen für eine akute Blinddarmentzündung da.

Es gibt noch einige andere klinische Zeichen, die man testen kann: Druck in den Bauch auf der Gegenseite, Beugen des Beins, Ziehen am gleichseitigen Hoden. Das habe ich den Patienten allerdings immer erspart und auch noch nie erlebt, dass jemandem bei Verdacht auf eine Blinddarmentzündung beherzt der Hoden herabgezogen wird. 

 

Manchmal entwickelt sich Fieber, manchmal nicht. 

Manchmal müssen Patienten erbrechen, manchmal nicht. 

Manchmal sieht man in den Blutwerten erhöhte weiße Blutkörperchen und Entzündungswerte, manchmal nicht.  

 

Denn die akute Blinddarmentzündung ist hauptsächlich eine klinische Diagnose:  findet man den typischen Schmerz im rechten Unterbauch mit der oben beschriebenen Vorgeschichte, Appetitlosigkeit und leichtem Fieber, sollte umgehend eine Einweisung in ein Krankenhaus erfolgen. Ist man sich nicht ganz sicher, weil die Schmerzen eher untypisch sind, sollte man dennoch sehr gut beobachten (ambulant oder stationär, je nach Symptomatik) und ggf. ein CT machen. 

 

Mithilfe des Ultraschalls kann man inzwischen Blinddarmentzündungen auch im Ultraschall sehen. Aber manchmal eben auch nicht. Das kommt auch ganz auf die Qualität des Ultraschallgerätes an. Und auf die Lage des Blinddarms im Bauchraum. Und auf die vorhandene Luft im Bauch. Und darauf, ob die Appendix stark geschwollen ist oder nicht. Und natürlich auf die Erfahrung  des Sonographeurs bzw. der Sonographeuse (ist Sonographeuse nicht ein famoses Wort?). 

 

"Der kann ja nicht mal eine Appendizitis diagnostizieren" 

 

Mal eben aus dem Stegreif eine Appendizitis zu diagnostizieren, geht häufig nur bei den klassischen Symptomen. Sprüche wie: „Der Arzt kann ja nicht mal eine Blinddarmentzündung diagnostizieren“, hört man meistens von Leuten, die davon keine Ahnung haben. Die sich selbst noch nie fachlich und sachlich mit einer Blinddarmentzündung auseinandersetzen mussten. Denn es gibt keine äußerlich sichtbaren Anzeichen für eine Blinddarmentzündung und auch die Laborwerte können unauffällig sein. 

 

Wird eine Appendizitis nicht behandelt, kann sie platzen. Das klingt nun immer so martialisch, mit herumspritzendem Eiter und einem lauten Knall. Aber eigentlich entsteht durch die Entzündung eine sehr dünne Darmwand, die irgendwann leise einreißt und der Eiter sich entleert. 

 

Im Alter unempfindlicher

 

Aber nicht immer sind Schmerzen ein Indikator für die Schwere der Erkrankung. Gerade mit zunehmendem Alter werden Menschen manchmal schmerzunempfindlicher und selbst lebensbedrohliche Situationen zeigen sich nicht mehr in schwersten Schmerzen.

 

Ich erinnere mich an eine Situation in der Notaufnahme: 

Eine alte Dame, circa 80 Jahre, kam zu mir mit Luftnot. Sie verspüre einen starken Druck auf der Brust, erklärte sie mir.

Bei diesen Symptomen denkt man als erstes an einen Herzinfarkt, an eine Lungenembolie oder eine Lungenentzündung. Die unmittelbaren diagnostischen Maßnahmen waren daher ein EKG, die Messung der Sauerstoffsättigung, eine Blutgasanalyse und natürlich die Blutentnahme. 

 

Nachdem die Patientin an den Überwachungsmonitor angeschlossen und das Blut abgenommen war, machte ich mich an die Arbeit und untersuchte sie von Kopf bis Fuß. Dabei fiel mir auf, dass ihr Bauch prall aufgetrieben war. Und steinhart. Wie ein dicker, runder Kürbis ragte er nach oben. Ich war etwas alarmiert, zückte mein Stethoskop und horchte den Bauch ab. Ich hoffte, Darmgeräusche hören zu können, aber der Bauch war totenstill. Nicht das leiseste Glucksen war zu hören. Ich versuchte es an einer anderen Stelle, auch hier war kein Geräusch zu hören. So arbeitete ich mich über die Bauchdecke, um wenigstens das leiseste Darmgeräusch zu finden, aber es tat sich gar nichts.

Also drückte ich sachte auf den harten Bauch. „Tut Ihnen das weh, wenn ich drücke?“

„Nein“, sie schüttelte den Kopf. „Aber mei Luft!“

Sie atmete tief ein. 

Ich drücke etwas kräftiger. „Und tut es jetzt weh?“ 

Sie schüttelte abermals den Kopf.

 

Ich war überrascht. Die Dame kam wegen Luftnot, hatte keinerlei Schmerzen im Bauch, aber die fehlenden Darmgeräusche und das weit aufgetriebene Abdomen sprachen ziemlich eindeutig für einen Darmverschluss. Ich holte das Ultraschallgerät und rief im Labor an, dass sie das Blut der Patientin bitte noch auf Laktat untersuchen sollten. Laktat entsteht beim anaeroben Abbau von Glucose und kann auf eine Sauerstoffunterversorgung des Darms hindeuten, beispielsweise bei einem Darmverschluss oder einer Darmischämie.

Dann rief ich vorsichtshalber die Kollegen der Chirurgie an und informierte sie darüber, dass ich eventuell Arbeit für sie habe. 

 

Der Ultraschall bestätigte, dass die Patientin ein akutes, lebensbedrohliches Problem hatte: der Darm war massiv geweitet und bewegte sich nicht mehr. Notfallmäßig ging die Dame ins CT. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, schließlich war sie doch wegen ihrer Luftnot zu uns ins Krankenhaus gekommen.

 

Im CT wurde schließlich die Ursache für ihre Probleme festgestellt: Sie hatte eine Darmperforation aufgrund einer Darmischämie - einer Sauerstoffunterversorgung von Teilen des Darms, die zum Absterben des Gewebes führt. Der brettharte Bauch hatte ihre Lunge daran gehindert, sich beim Atmen zu weiten und richtig zu atmen. Darüberhinaus war es durch die das Absterben des Darmgewebes zu einer Übersäuerung, einer Azidose, gekommen. Zu einer richtigen Azidose. Keine, die manche selbsternannten Heiler durch Basenfasten zu therapieren versuchen. Sondern zu einem gefährlichen Absinken des pH-Wertes, was die Lunge durch eine vermehrte Abatmung von CO2 zu kompensieren versuchte. 

 

Die Patientin wurde umgehend operiert und hat die Darmischämie gut überstanden. 

 

Aber nicht immer sind die Ursachen von Bauchschmerzen oder eine Blinddarmentzündung glasklar zu diagnostizieren. Ein erfahrener Arzt sagte mir mal: "Eigentlich kannst du dir die ganze apparative Diagnostik sparen. Wenn du denkst, es ist eine, muss der Patient ins Krankenhaus."

 

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Bild: MabelAmber, Pixabay

Gender: Auch, wenn ich zugunsten des Leseflusses in der maskulinen Form schreibe, meine ich natürlich immer alle Geschlechter.