Warum wir Hausärzte manchmal "nichts" machen - über apparative Medizin

„Kann man da nicht mal ein MRT machen? So von allem?“

 

Die Patientin sitzt vor mir, sie wirkt ein bisschen angespannt.

„Ich meine, seit Wochen habe ich Schmerzen, überall. Mal hier, mal da. Das muss doch was sein!“ 

 

Ich lasse sie sich erst einmal ihren Frust von der Seele reden. 

„Ich habe Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Herzrasen, meine Nebenhöhlen sind auch schon wieder dicht und mein Rücken tut weh. Meine Knie machen auch nicht mehr mit. Wenigstens mal ein MRT vom Rücken? Vielleicht kommt ja alles vom Rücken und strahlt aus? Oder mal den Kopf, wegen meinen Kopfschmerzen? Es muss doch einen Grund geben!“

 

Für mich gilt es nun, sie nicht zu verärgern oder ihr das Gefühl zu geben, sie nicht ernst zu nehmen. Aber ein „Ganzkörper-MRT“ gibt es nicht. Man kann Patienten nicht durch die Röhre schieben, damit sie fließbandartig am anderen Ende mit einer Diagnose wieder herauskommen. Nicht nur die technischen, sondern auch die strukturellen Vorraussetzungen hinsichtlich der Überlastung des Systems, und auch die Sinnhaftigkeit der Überdiagnostik sind hier limitierend. 

 

In dieser kurzen Gesprächssequenz offenbaren sich also unsere Herausforderungen, mit denen wir Hausärzte tagtäglich konfrontiert sind. Denn oft, wenn wir Untersuchungen ablehnen, heißt es: „Der Arzt hat gar nichts gemacht!“ 

 

Dröseln wir mal auf, wann wir etwas machen, wann nicht, und warum das Ganze so ist.

 

Die Wellenbrecher - über sog. Niedrigprävalenz

 

Ich habe dieses Bild des Wellenbrechers in älteren Artikel bereits verwendet, weil es mir ganz gut gefällt. Als Hausärzte stehen wir an der untersten Stufe der Patientenversorgung, wir sind die Basis. Deswegen werden wir manchmal auch nicht ernst genommen.

"Überweiser", "Gelbe-Zettel-Verteiler" und "Ärzte für leicht erkennbare Krankheiten" sind wir. Aber nicht nur. Wir sind die Wellenbrecher, die das System schützen und am Laufen halten.

 

Zu uns Hausärzten kommt ein ganz großes Patientenklientel, das sehr unspezifische oder nur geringe Beschwerden zeigt. Denn die Patientenpopulation in einer Hausarztpraxis unterscheidet sich sehr von der eines Krankenhauses. Nur zehn Prozent aller Patienten mit gesundheitlichen Problemen gehen in ein Krankenhaus, der Rest wird im ambulanten System behandelt.

 

Um das mit Zahlen zu verdeutlichen: 

Wenn man 1000 Personen betrachtet, von denen 750 Symptome (egal welcher Art) haben, dann gehen 250 von ihnen zum Arzt. Von diesen 250 Patienten stellen sich etwa zwölf bei einem Facharzt vor, die restlichen Patienten gehen zum Hausarzt. Acht von diesen werden in ein Krankenhaus eingewiesen, ein Patient in eine Universitätsklinik. 

 

Das zeigt, dass klar definierte Krankheitsbilder im hausärztlichen Bereich selten vorkommen (wenn man mal von den klassischen Erkältungskrankheiten absieht). Den Patienten mit den ganz typischen Brustschmerzen bei Herzinfarkt gibt es natürlich auch im hausärztlichen Bereich, und ihn müssen wir dann in ein Krankenhaus schicken. Aber auf diesen einen Patienten mit den typischen Symptomen kommen viele andere, die sich mit unspezifischen Schmerzen im Brustkorb, oder mit leichter Atemnot und/oder erhöhtem Blutdruck vorstellen. Manchmal ist es eine Erkältung, manchmal Probleme mit dem Bewegungsapparat, manchmal Sodbrennen. Es kann auch der Blutdruck sein oder eine Interkostalneuralgie. Wir dürfen schwere Erkrankungen wie einen Herzinfarkt oder eine Lungenarterienambolie nicht übersehen, also machen wir in der Praxis dann so viel akute Diagnostik, dass wir gefährliche Situationen ausschließen können und der Patient im ambulanten System verbleibt. Wenn das nicht gelingt, erfolgt die Einweisung in die Klinik oder die Überweisung zu einem Facharzt. 

 

Ähnlich verhält es sich beispielsweise bei einer Blinddarmentzündung. Wenn sich ein Patient mit Bauchschmerzen vorstellt, tippen wir nicht einmal auf den Bauch, damit er mit einem Sträußlein Petersilie garniert die Diagnose Appendizitis ausspuckt.

 

Sondern wir fragen nach Symptomen, eruieren die Wahrscheinlichkeiten für die Erkrankung, untersuchen den Bauch, messen Fieber, machen vielleicht auch einen Ultraschall und eine Blutentnahme. Aber auf diesen einen Patienten, der wirklich eine Appendizitis hat, kommen viele Menschen mit Magen-Darm-Grippe oder auch einfach mal mit Verstopfung, Reizdarm und … manchmal wir wissen es nicht.

Manchmal sind Bauchschmerzen auch einfach Bauchschmerzen, und gehen von alleine wieder weg. 

 

Diagnosen, die also im Krankenhaus ständig vorkommen (Hochprävelanz), sind in der Praxis selten (Niedrigprävalenz). 

 

Diese Niedrigprävalenz hat Auswirkungen auf diagnostische Methoden in der Hausarztpraxis. Denn die gesamte Diagnostik, die man in einer Klinik auffährt, liefert dort in vielen Fällen auch krankhafte Befunde, weil die Patientenpopulation sozusagen schon vorgefiltert wurde. Das nennt man den Positiven Vorhersagewert einer diagnostischen Methode. 

 

Dieser ist unter Krankenhausbedingungen hoch. 

 

In der Praxis verliert der Positive Vorhersagewert seine Aussagekraft, weil die Anzahl der Patienten mit einer bestimmten Erkrankung, die man aus dem gesamten Kollektiv herausfischen möchte, deutlich kleiner ist, als in der Klinik. 

 

Salopp gesagt: Macht man bei Patienten, die stationär auf einer kardiologischen Station liegen, ein EKG, wird man in vielen Fällen EKG-Veränderungen durch eine KHK (Koronare Herzerkrankung) finden. 

Machen wir als Hausärzte EKGs bei Patienten mit unspezifischen thorakalen Beschwerden, findet man in den wenigsten Fällen aussagekräftige Veränderungen. 

 

Was ist die Konsequenz daraus? Manchmal können wir keine Diagnosen feststellen, dann müssen wir abwarten und die Diagnose offenhalten.

 

Abwartendes Offenhalten

 

Denn manchmal zeigen sich weitere Symptome erst im Verlauf. Da wir aber direkt an der Basis sitzen, können wir natürlich Patienten wunderbar beobachten, zeitnah wieder einbestellen und bei Veränderungen weitere Diagnostik einleiten. Das nennt man Abwartendes Offenhalten und ist keine Schwäche des hausärztlichen Systems. Nein, das ist eigentlich seine Stärke.

 

Wir schicken Patienten nicht weg, weil wir nicht wissen, was sie haben. Wie schicken Patienten manchmal weg, wenn sich einfach noch keine Diagnose ergeben kann. Mit dem Hintergedanken: wir reagieren sofort, wenn sich etwas verändert.

 

Dann 70 Prozent der Fälle kann man trotz ausführlicher zusätzlicher Diagnostik, auch durch Spezialisten und Kliniken, nicht unmittelbar klären. Das gilt insbesondere für Befindlichkeitsstörungen, denen keine fassbare Erkrankung zu Grunde liegt. Und die machen einen großen Teil in der allgemeinmedizinischen Praxis aus.

 

Um es wieder an einem Beispiel zu verdeutlichen:

Ein Patient stellt sich mit einem brennenden Schmerz am Oberschenkel vor. Die Haut ist unauffällig, dem Patienten geht es sonst gut. Wir fragen nach Rückenschmerzen, Taubheitsgefühlen in den Beinen, Verletzungen oder ob die Gartenarbeit zu anstrengend war.

„Ne, Fra Dokta, das is aafach so kumme.“

 

Der Mann hat einen Diabetes, das wissen wir, weil wir ihn kennen. Es liegt aber sonst kein schweres Symptom vor, das Bild ist unklar. Wir können jetzt nicht die gesamte Diagnostik von Labor über MRT bis hin zur Biopsie durchführen, denn wonach wollen wir suchen? Bandscheibenvorfall? Zerrung? Nervenentzündung?

 

Also warten wir ab und bitten den Patienten, sich wieder vorzustellen. Zwei Tage später zeigen sich Bläschen an dieser Stelle sowie eine flächige Rötung. Damit steht die Diagnose Herpes zoster (Gürtelrose) und wir können die Therapie einleiten. 

 

Es geht also nicht immer darum, auf die Minute sofort eine Diagnose zu stellen. Oft schließen wir alleine durch Frage und Antwort, durch die körperliche Untersuchung und dann ggf. durch eine erweiterte Diagnostik eine gefährliche Krankheit aus. Und das Ausschließen von schlimmen Erkrankungen ist wichtiger, als sie zu bestätigen.

 

Wieder ein Beispiel: Jemand kommt mit Husten zu mir. Alleine durch das Fragen nach Fieber („Nein“) und das Abhören der Lunge („normal“) kann man eine Lungenentzündung weitestgehend ausschließen. Wenn ich dann noch Blut abnehme und nach Entzündungsparametern schaue, weil der Husten schon arg schlimm ist und mit Hausmittelchen nicht weggehen will, sehe ich bei normalen Werten, dass es eher keine Pneumonie sein kann. (Das Thema Covid-19 lasse ich an dieser Stelle mal außen vor.) 

 

Ich bestelle mir den Patienten also zur Verlaufskontrolle ein und wir sehen, wie es sich entwickelt. Sind die Untersuchungsergebnisse im Verlauf verändert und auffällig, und der Patient muss in ein Krankenhaus gehen, wird man dort sagen: „Natürlich hat er eine Lungenentzündung! Bei den Symptomen und Befunden! Eindeutig!“

So eindeutig ist es, weil wir die anderen Patienten selbst behandeln. 

 

Red Flags

 

Wir als Hausärzte haben also insbesondere die Aufgabe, sogenannte „abwendbar gefährlichen Verläufe" zu erkennen, der richtigen Fachdisziplin zuzuweisen und/oder die richtige Therapie einzuleiten. 

 

Dafür gibt es die Red flags, die Warnzeichen, die dabei behilflich sind. Bei Auftreten von diesen Alarmsignalen wie Nachtschweiß, rapider ungewollter Gewichtsverlust, Blut im Stuhl, Ohnmachtsanfälle oder Druck in der Brust, muss ganz genau hingesehen, befragt und untersucht werden. Manchmal ist die Intuition auch führend.

 

Ich erinnere mich an eine Patientin, die starke Schulterschmerzen hatte, die bis in den Kiefer zogen. Der Blutdruck war gut, das Herz schlug rhythmisch. Sie verneinte Atemnot, aber sie wirkte sehr „angeschlagen“. Schon das EKG in der Praxis offenbarte den Herzinfarkt. Alleine die Schulterschmerzen hätten kein EKG gerechtfertigt, ihr schlechter Gesamteindruck aber allemal. 

 

Red Flags und unsere Intuition gemeinsam sind eine gute Mischung für eine angemessene Diagnostik.

 

Das Problem der Überdiagnostik

 

Schwierig ist es manchmal, den schmalen Grat zwischen Unter- und Überdiagnostik zu beschreiten. Wird zu wenig Diagnostik betrieben, übersieht man evtl. krankhafte Befunde. Macht man aber zu viele apparative Untersuchungen, suggeriert man seinem Patienten automatisch: Da muss etwas Krankhaftes sein, „wenn sogar der Arzt sagt, dass ich mal in die Röhre muss.“

 

Folge wäre eine Symptomverfestigung, die man als Arzt sozusagen selbst hervorgerufen hat, weil man das Augenmerk zu stark auf ein Symptom gelegt hat. 

 

Hinzu kommt, dass man bei intensiver Apparatediagnostik sehr häufig kleinere Befunde erhält, die aber keinerlei Krankheitswert haben. Kleine Bandscheibenvorfälle findet man beispielsweise öfter, die aber keine Probleme machen. Nun, da sie entdeckt wurden, entwickelt sich ein Schmerz, der aber nicht durch den Vorfall ausgelöst wird. Und schwupps, fühlt der Mensch sich krank. Wir können uns auch ganz doll vorstellen, dass unser großer Zeh schmerzt und es wird passieren. Weil wir plötzlich die Aufmerksamkeit auf kleinere Befindlichkeitsstörungen legen, die wir vorher nicht beachtet haben.

 

Um zu meiner Patientin mit den Schmerzen am gesamten Körper zurückzukommen: Die unspezifischen Beschwerden - mal hier, mal da, mehrere Organe betreffend, aber ohne Warnzeichen - muss man natürlich ernst nehmen. Sie hat „etwas“, sie hat ein Problem, sie fühlt sich krank. Vielleicht ist es psychosomatischer Natur, vielleicht aber auch etwas rein Somatisches. 

 

Daher gilt immer, dass wir unsere Patienten anhören müssen. Wir müssen als Hausärzte zuhören, ernst nehmen, sprechen. Das Leiden heraushören, die Symptome ggf. durch Untersuchungen objektivieren und Alarmsymptome beachten. Gibt es diese nicht, gibt es auch (erstmal) keinen Anlass für ausgeprägte apparative Untersuchungen. 

 

Und dann: Beobachten, nicht aus den Augen verlieren und seine eigenen Ergebnisse immer wieder neu eruieren und auch in Frage stellen. 

 

Leider wird der sprechenden Medizin zu wenig Beachtung geschenkt. Bei meiner Patientin habe ich ein gezieltes MRT machen lassen,  aber dann durch viele Gespräche über einige Wochen den Knackpunkt im Privaten herausgefunden. Und schließlich, wenn im Gespräch die Tränen fließen, weiß man, dass man den Grund gefunden hat. 

 

Manchmal machen wir „nichts“. Außer zu sprechen.

Aber sprechende Medizin ist nicht zu ersetzen. 

 

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Bild: Bokskapet

Gender: Auch, wenn ich zwecks Lesefluss in der maskulinen Form schreibe, möchte ich natürlich alle Geschlechter ansprechen.