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Karenztage - Ihr macht doch alle blau!1!

In letzter Zeit war es ruhiger auf meinem Blog. Ich habe die letzten Wochen für meine Familie genutzt, nachgedacht, viel gelesen, ausgeruht. 

Dann bekam ich von einem netten Stammleser eine Spende über meine Website. Als ich mich in einer Mail bedankte mit den Worten: „Ich habe in den letzten Wochen doch eigentlich gar nicht viel gebloggt, verdient habe ich die Spende nicht“, antwortete er scherzhaft: „Qualität geht vor Quantität, aber dass mir das nicht einreißt!“

Ich musste lachen und freute mich. Und recht hat er! Da bin ich wieder. Fresh from the blog. 

 

Dankenswerterweise liefern mir die Nachrichten auch gleich ein passendes Thema: die Karenztage. 

 

Frohes neues Jahr!

 

Fängt das neue Jahr nicht schön an? Viele Arbeitnehmer haben sich im letzten Jahr ein Bein für ihren Job ausgerissen und hofften auf ein besseres, da steigen erst einmal die Krankenkassenbeiträge deutlich an und als Kirsche auf der Sahne fordert der Allianz-Chef nun die Wiedereinführung der Karenztage: am ersten Tag einer Krankmeldung gibt es keinen Lohn.

 

Das stößt auf scharfe Kritik, auch auf meine. Darf ich sagen, dass ich es als eine bodenlose Frechheit empfinde? Ich möchte auch gerne die Gründe dafür erklären, aber zunächst ein paar Zahlen und Fakten und Zitate:

 

Nach Angabe des Statistischen Bundesamtes waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Jahr 2023 im Schnitt 15,1 Tage im Krankenstand. Laut DAK waren es im Jahr 2023 bei ihren Versicherten 20 Fehltage pro Person. Die Fehlzeiten beim Statistischen Bundesamt sind etwas niedriger, weil nur mehrtägige Krankmeldungen erfasst wurden. Es existiert keine einheitliche Statistik in Deutschland über Krankmeldungen ohne ärztliche Krankschreibung, also für die einzelnen Tage, die ein Mensch beispielsweise aufgrund von Migräne, Durchfall oder Menstruationsschmerzen zuhause bleibt.

 

Man kann in den Statistiken tatsächlich einen deutlichen Anstieg der Krankheitstage erkennen. Seit dem Jahr 2022 existiert die elektronische Krankmeldung und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen werden elektronisch an die Krankenkassen weitergeleitet. Das heißt, es gibt seitdem eine lückenlose Übertragung der Fehlzeiten, während vorher viele „gelbe Zettel“ wahrscheinlich in den Ablageschubladen der heimischen Schreibtische vergammelten. 

 

Nun sei Deutschland „Weltmeister bei den Krankmeldungen“ sagte der Allianzchef. Und auch die CDU erklärte im Dezember, in Deutschland gäbe es keine Leistungsbereitschaft mehr. 

 

Wenn ich so etwas lese, möchte ich in die Luft gehen. Vielleicht sollten ein Politiker oder eine Politikerin, oder jede Person, die so etwas behauptet, nur mal einen einzigen Tag dort arbeiten, wo „der kleine Mann“ und „die kleine Frau“ tagtäglich ihr Geld verdienen. Ich habe jahrelang als Hausärztin gearbeitet und die Probleme mitbekommen, die dazu führen, dass Menschen sich krankschreiben lassen. Das sind nicht die reichen Manager, sondern die Handwerker, die Pflegekräfte, die Kassiererin an der Tankstelle, der oder die Einzelhandelsfachkraft. Es sind die Menschen „wie du und ich“, die im Schichtdienst und/oder körperlich hart arbeiten. Es sind die Menschen, die mit vielen anderen Personen zusammenarbeiten und diejenigen, die die Last der Gesellschaft tragen. 

 

Und genau das sind auch die Menschen, bei denen es manchmal auf einen Tag Lohn ankommt. Mal wieder soll die soziale Schere ein wenig weitergestellt werden: die armen Menschen werden ein bisschen ärmer, die reichen Menschen können einen Tag ohne Gehalt besser verknusen. Auch wenn das Tagesgehalt bei einem Gutverdienter natürlich deutlich höher ist und er sich womöglich auch überlegt, ob er auf ein paar hundert Euro verzichtet, keine Frage. 

 

Gründe für Krankmeldungen sind vielseitig und selten "blau"

 

Aber gehen wir doch mal die Gründe durch, warum sich Menschen in Deutschland vermehrt krankmelden. Und ob sie das überhaupt tun. Es wird gesagt, wir stünden im europaweiten Vergleich an der Spitze. Dabei sieht selbst die OECD, die Organisation für wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung, keinen erhöhten Krankenstand in Europa. In Deutschland fehlten Arbeitnehmer 6,8% ihrer Arbeitszeit und damit auf einem Niveau mit Belgien und Schweden, in Frankreich sei der Wert höher, in den Niederlanden und Österreich niedriger. Die Vergleichbarkeit sei aufgrund der unterschiedlichen Sozialsysteme schwierig, schreibt auf der WDR in einem Artikel. 

 

Meine Beobachtungen als Hausärztin jedenfalls sind Folgende: Ja, es gibt hin und wieder das schwarze Schaf, das sich eine Krankmeldung ergattern möchte und „blau macht“. Die gibt es doch überall, oder? Wie soll eine Ärztin oder ein Arzt in welchem Land auch immer kontrollieren können, ob der vor mir sitzende Mensch in der letzten Nacht wirklich gebrochen hat oder stundenlang auf der Toilette saß, geplagt von Durchfall, der am folgenden Morgen wie von Zauberhand verschwand.

 

Aber ja, das gibt es nun mal wirklich. Starker Durchfall, mit irgendwas den Magen verdorben, am nächsten Tag das Gefühl von "einmal durch den Fleischwolf" gedreht und arbeitsunfähig. 

 

Und es gibt die Frauen mit starken Menstruationsbeschwerden, starken Blutungen, die alle zwei Stunden den Tampon oder die Vorlage wechseln müssen, mit Rückenschmerzen, Schwindel, Übelkeit. Da hilft dann auch keine Wärmflasche (bei der Arbeit), die Ibu nimmt nur den Schmerz, nicht den Schwindel und die Blutung. 

 

Oder denken wir an Migränepatienten: einfach eine Kopfschmerztablette oder ein Triptan einwerfen hilft bei leichten Anfällen. Aber eine echte Migräne knockt die Patienten aus und lässt sie im dunklen Zimmer liegen. 

 

Dann wäre da noch der Handwerker, der sich mit starken Rückenschmerzen kaum bewegen kann, einen Tag zuhause bleibt und am Folgetag unter Ibu sich wenigstens wieder ein bisschen bewegen kann.

 

Und nicht zu vergessen: die Erkältungswellen - eine nach der anderen. Wen erwischen die andauernden grippalen Infekte oder Covid am ehesten? Den Vorstandsvorsitzenden im Büro oder die Pflegekraft im Heim? Die Managerin einer Krankenkasse oder die Erzieherin im Kindergarten? Die Politikerin im Bundestag mit Luftfiltern, oder den Kassierer im Supermarkt? Es erwischt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nah am Menschen arbeiten und Tag für Tag angehustet werden, Kranke und Alte pflegen oder unter Stress und ungünstigen Arbeitsbedingungen schuften, denn Stress schadet dem Immunsystem.

 

Womit wir beim Stress wären - davon hatten wir in den letzten Jahren bestimmt alle genug, oder? Hier schließe ich auch die Politiker, Manager, Vorstände etc mit ein, die Pandemie war für uns alle eine Herausforderung. Aber - sorry - auch wieder mehr für die „kleinen Leute“. Für diejenigen, die die Kranken auf der Intensivstation gepflegt haben, sich im Supermarkt beschimpfen lassen mussten und diejenigen, die nicht ins Homeoffice flüchten konnten. Es war keine gute Zeit. 

 

Krank zur Arbeit schleppen gibt keinen Orden

 

Meine Erfahrung nach schleppen sich viele Menschen krank zur Arbeit. So oft habe ich als Ärztin gesagt: „So können Sie nicht arbeiten gehen, Sie sind krank!“

Oder: „Sie stecken alle an, das ist unverantwortlich!“ 

 

Die Antworten waren immer die gleichen: „Aber ich kann meinen Chef nicht alleine lassen“, „Ich habe Angst um meinen Job“, „Ich war sowieso die ganze Woche schon im Büro“. 

 

Dieses Präsentismus ist weit verbreitet, vor allem in kleinen Betrieben, meiner Beobachtung nach. Denn dort wird man mit Missachtung bestraft, wenn man fehlt. „Wann willst Du die fehlenden Tage nachholen?“, wird gefragt.

 

Ja, genau. Krankheitstage sollen nachgeholt werden, so habe ich auch geschaut. 

 

Natürlich erhebe ich persönlich keine Statistik und meine Schilderungen mögen nur anekdotische Evidenz sein, meine Beobachtung. Doch solche Aussagen gibt es von Patientinnen und Patienten immer und immer wieder. 

 

Überstunden werden als Selbstverständlichkeit angesehen

 

Auch die Überstunden sind hoch. 4,6 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leisteten im Jahr 2023 Überstunden, 19% der Betroffenen arbeiteten pro Woche 15 Stunden mehr, bei 70% waren es bis zu zehn Stunden und bei 40% der Betroffenen bis zu fünf Stunden. Jeder Fünfte, also 20% der Menschen, die Überstunden machten, wurde dafür nicht bezahlt. In 71% wurde die geleistete Arbeitszeit über ein Zeitkonto ausgeglichen. 

 

Auch das deckt sich mit meinen Beobachtungen: Überstunden werden häufig als Selbstverständlichkeit angesehen, insbesondere in kleinen Betrieben, beispielsweise im Handwerk. Nur mal schnell an der Maschine die Teile fertigstellen, auf der Baustelle den Job erledigen. In der Pflege existieren meist Arbeitszeiterfassungen, aber durch den Mangel an Fachkräften müssen häufig Kollegen einspringen und füllen so ihr Überstundenkonto. 

 

Das führt zu einer massiven Überlastung der Arbeitnehmenden und zu psychischen Problemen. Netterweise gibt es immer weniger Termine bei Fachärzten, weniger Therapieplätze für psychische Erkrankungen und was macht man dann? Erst einmal krankschreiben, damit die Menschen wieder zu Kräften kommen.

 

Ein vermehrtes Blaumachen habe ich nicht beobachtet, sondern eine zunehmende Arbeitsbelastung, ein Hinschleppen zur Arbeit, eine raue Arbeitsatmosphäre und finanzielle Sorgen. Hinzu kommen Eltern in Teilzeit (meist Mütter), die eine reduzierte Stundenzahl arbeiten, um mit ihren Stunden „nur“ auf den Umfang einer Vollzeitstelle kommen - wie absurd ist das denn? Aber das kenne ich auch noch aus meiner eigenen Klinik-Zeit: Ich habe 75% gearbeitet, damit ich spätestens um 15:30 Uhr gehen und meine Kinder abholen kann. Die Arbeitszeit für eine Vollzeitstelle wäre um 16:15 Uhr beendet gewesen, aber dann wäre die KiTa geschlossen. 

 

Ich komme zu dem Schluss: Vorschläge, die Karenztage wieder einzuführen, können nur von jemandem kommen, der die Menschen nicht kennt. Von jemandem, der ganz weit weg von der Basis lebt und arbeitet. Von jemandem, der die Sorgen und Nöte nicht versteht, weil das eigene Konto gefüllt und das Büro warm ist. 

Auch ganz rational betrachtet führen Karenztage viel mehr dazu, dass Menschen krank zur Arbeit gehen und andere anstecken, was zu Folgenkosten führt. 

 

Hoffen wir, dass sich der Vorschlag nicht durchsetzt. 

 

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Bild: pexels auf pixabay

 

Quellen:

https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/08/PD24_N039_13.html

https://www1.wdr.de/nachrichten/krankschreibung-karenztag-allianz-100.amp

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/debatte-lohnkuerzung-krankheitsfall-allianz-100.html