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Um Gottes Willen nichts mit Patienten

Seit 10 Jahren bin ich nun Ärztin und kann nicht behaupten, dass ich es immer gerne gemacht habe. Bzw. mache. Denn die Arbeitsbedingungen sowohl in Klinik als auch in Praxis sind kaum zu ertragen. Und gleichzeitig liebe ich meinen Beruf, denn ich bin einfach mit Leib und Seele Ärztin. 

 

Die Sache ist die: Ich bin gut in dem, was ich mache und ich kann nichts anderes. Ich kann auch nicht ohne diesen Beruf. Aber er prägt. Man sieht Freude und Leid, arbeitet die Nächte durch ohne Dank dafür. Man geht auf dem Zahnfleisch, weil die Visite nun schon 3h dauert, wenn einfach kein anderer Kollege da ist. Man spricht mit tausenden Menschen in seinem Leben und lernt all das Menschliche und Unmenschliche kennen. Krankheit und Heilung, Notfälle, Tod, Emotionen, Dankbarkeit. 

Man sieht Ekelhaftes und riecht Widerliches. Menschen schreien Dich an und fallen Dir weinend um den Hals. Abgedrehte Sexualpraktiken, die die Patienten in die Notaufnahmen treiben und Belästigung vom medizinischen Personal gehören natürlich auch dazu. Und was macht man? Sich schütteln, den Schmutz abstreifen und weitermachen. 

Man wird mit Blut bespritzt, bekommt Erbrochenes ins Gesicht, badet in fliegenden Hautschuppen vom Thrombosestrumpf, steckt Hände in Därme und schnuppert den Geruch von Leben, Verwesung, Infektion, Eiter und Alter. Man sieht Menschen, wie man sie eigentlich nicht sehen will und versucht, Ihnen das letzte bisschen Würde zu geben. 

 

Wie in kaum einem anderen Beruf prägt man das weitere Leben der Menschen und nimmt unmittelbar Einfluss. Gut, nicht bei jeder genähten kleinen Schnittwunde oder verordneter Medikation hat man Wunder vollbracht. Aber der Patient erinnert sich. Ich erinnere mich an meine erste Schnittwunde, die von einem jungen Arzt im gelben Kasak genäht wurde und er mich fragte, ob er eben schnell den Leberfleck an der gleichen Stelle wegschneiden soll. Entsetzt war ich! Also beließ er das Fleckchen am selben Fleck und dort erinnert es mich immer an den hübschen, jungen Doktor in gelb, der mich eines Teils von mir berauben wollte.  

 

Als Arzt bleibt man seinen Patienten in Erinnerung, sowohl positiv, als auch negativ. Man benötigt schon ein dickes Fell, um mit den Arten und Unarten der Menschen klar zu kommen. Mein Fell ist  inzwischen dick und trägt einige Narben. 

 

Aber so war ich nicht immer.

 

Ziemlich pathologisch...

 

Angefangen habe ich nach dem Studium in der Pathologie, weil ich UMGOTTESWILLEN nichts mit Patienten machen wollte. Es sei denn, sie ärgern mich nicht mehr.

 

Es stellte sich jedoch heraus, dass auch Tote einen ärgern können. 

Wenn sie sich einfach nicht obduzieren lassen, weil die Organe sich nicht lösen; wenn sie die Frechheit besitzen, nach Fäulnis und Verwesung zu riechen; wenn Dir die Organe unter den Händen zerfließen, weil der Tod schon länger her ist; wenn Dir Fettbrocken in’s Ohr geschleudert werden, weil der Kollege die Fettbrocken-Handschuhe zu schwungvoll auszieht; wenn Patienten 150 kg schwer sind und man als 54kg schweres Fliegengewicht versucht, diesen Leichnam alleine auf den Autopsietisch zu ziehen - mit Leichenstarre; wenn sie Dich in Deine Träume verfolgen, weil sie viel zu jung zum Sterben waren; wenn es Babys sind, die vollkommen gesund sind und unter der Geburt starben und man mit dem perfekten Baby im Arm einfach nur weinen muss.

 

 

Wahre Mediziner forschen...

 

Also ging ich in die Forschung. Ich wollte keinen Tod mehr um mich haben. Erforschen, was schwer kranken Menschen mit Krebs das Leben erleichtern und verlängern kann, erschien mir ein gutes ärztliches Ziel. Und: Wenig Patientenkontakt. Toll! 

 

Aber: Siechtum ist schlimmer als Tod. 

 

Ich stürzte mich anfangs begeistert in meine neue Aufgabe und wurde in meinem Tun bestätigt: Publikationen schreiben, Poster erstellen, Planen und Nachdenken lag mir. Der Kontakt mit den schwerstkranken und zum Teil sehr jungen Patienten machte mir aber zu schaffen, insbesondere weil ich selbst erst kurz vorher meine Mutter an den Krebs verloren hatte. Ich versuchte, meine Prioritäten auf die Forschung zu legen, weil aber die Stelle nun mal eine ärztliche Stelle war, konnte ich den Patientenkontakt nicht vermeiden. 

Also ging ich. 

 

 

... oder kehren der Medizin den Rücken

 

Und zwar in die Pharmaindustrie. Und erhoffte mir hier mein Glück auf eine aufstrebende Karriere, die mit meiner Familie vereinbar wäre. Die Rahmenbedingungen waren auch großartig. Ein nettes Team, ein ordentliches Gehalt, Homeoffice-Tage, Einarbeitung (sowas gibt es in der Klinik nicht, auch wenn es alle behaupten), Aussichten auf Karriere. Und was passierte?

 

Mir fehlten die Patienten.

 

Mir?!

 

Ich wollte nie Patienten haben, aber wie ein dressierter Affe am PC zu sitzen und Formulare auszufüllen war auch nicht bereichernd. Nun bin ich (leider) recht prinzipientreu und schmiss noch in der Probezeit hin.

 

Um dann...

 

 

 

Back to the roots

 

...in den patientenorientiertesten Bereich zu gehen, den es gibt: In die Innere Medizin eines kleinen Krankenhauses einer mittelgroßen Kurstadt. Viele alte Menschen und ein breites Spektrum an Krankheiten. Viele nahe gelegene, überlastete Altenheime, die am Wochenende wie alle anderen pflegerischen Stationen notleidenden Stellenmangel haben und die Ömchen mit Exsikkose (Austrocknung) ins Krankenhaus schicken.

 

Weil sie sich nicht anders zu helfen wissen. Weil eine Pflegekraft alleine sich nicht um 15 Menschen kümmern kann. Weil die Pflegekraft selbst mal etwas trinken müsste beim Arbeiten. Das Praktische, wenn man beim Arbeiten nichts trinkt? Man muss nicht auf die Toilette gehen. Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und etwas Zeit gespart. Das habe ich auch alles durch. 

 

Mit Magenschmerzen und gemischten Gefühlen startete ich in den neuen Job und hatte unendliche Angst vor den vielen Patienten und den vielen Überstunden, den Diensten. Doch erst hier habe ich festgestellt, dass mir die Arbeit mit den Patienten doch recht leicht fällt. Und so fügte ich mich dem zermahlenden Rad aus Arbeit, Überstunden, durchgemachten Nächten und schlechtem Gewissen der Familie gegenüber.

 

Meine Gesundheit litt sehr, die Familie auch. Und doch fand ich tolle Kollegen, Freunde, schöne und traurige und lustige Geschichten, viele Erfahrungen und meinen Weg als Ärztin. Viele Narben in meinem dicken Fell erinnern mich an die Zeit und ich fühle mich älter, als ich eigentlich bin. Und auch erschöpfter. Oft bereue ich zutiefst, dass ich Ärztin geworden bin, weil diese Arbeit, die Du liebst, Dich auffrisst. 

 

Inzwischen arbeite ich in einer Praxis und erlebe hier ein buntes Gemisch der Menschheit, der Gesellschaft. Ich behandle Kinder und Alte, Männer und Frauen, Kranke und Gesunde. Ich sehe die Abgründe der Menschheit und die Lichtblicke derselben. Ich erlebe Ablehnung, für die ich nichts kann, weil das Gesundheitssystem eben so ist, wie es ist. Und ich erlebe Dankbarkeit und tolle Menschen, die mir sehr ans Herz gewachsen bin. 

 

Deswegen bin ich Ärztin. Deswegen schreiben ich. Um all die schönen und traurigen und lustigen Geschichten nicht zu vergessen. 

 

 

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