„Notfall!“ Meine Lieblingspflegekraft stürmt ins Arztzimmer, als ich gerade Arztbriefe schreibe. Just in dem Moment beginnt auch mein Telefon, schrill zu klingeln. Der Rea-Alarm ist laut, geht durch Mark und Bein und schreit dich an: „Was stehst du noch hier rum!? Run, Forrest, run!“
Wer diesen Alarm hört, kann gar nicht anders, als loszurennen.
Auch von den anderen Seite des Flures kommen Kollegen und auch mein Oberarzt angestürmt. „Welches Zimmer?“, ruft mein Oberarzt der Pflegekraft zu und sie zeigt wortlos auf den Raum vor uns. Wir bleiben kurz verdattert stehen und schauen uns an. In dem Zimmer liegt ein Herr, der seit Tagen kurz vor dem Ableben steht.
Mein Kollege ist bereits eingetroffen und hat mithilfe einer Pflegekraft das Reanimationsbrett am Ende des Bettes entfernt und unter den Patienten geschoben. Damit man den Patienten beim Drücken auf den Brustkorb nicht in die Matratze drückt, womit die Herzdruckmassage sinnlos wäre.
Daneben steht der Sohn des Patienten und hat die Hände entsetzt vor sein Gesicht gehoben und harrt der Dinge, die da kommen mögen.
„Sofort klären, was mit der Patientenverfügung ist!“, ruft der Oberarzt auf dem Flur und die Pflegekraft stürmt in Richtung Pflegestützpunkt, um die Akte zu sichten. Irgendwer hatte berichtet, er habe eine. Zwei Sekunden später steht der Oberarzt neben dem Angehörigen und befragt ihn zum mutmaßlichen Willen des Patienten. „Holen Sie ihn wieder!“, stammelt der Sohn, Angst steht ihm ins Gesicht geschrieben.
„Nichts vorliegend!“, schreit die Kollegin aus dem Stützpunkt zu uns.
„Loslegen!“, kommandiert der Oberarzt und in dem Moment kniet mein Kollege schon seitlich über dem Patienten, die Pflegekraft hat den Beatmungsbeutel zusammengebaut und auf dem Gesicht des Leblosen platziert. Zwei weitere Pflegekräfte lösen das Bett aus der Arretierung und wir fahren zügig in Richtung Intensivstation, während mein Kollege weiterhin auf dem Bett kniend rhythmisch auf den Brustkorb drückt. Ich löse ihn ab. Unter meinen Händen knirscht es bereits. Kein Wunder. Der Herr ist über 90 Jahre alt, sehr ausgemergelt, krank. Er hat eine Leukämie und eigentlich darf er sterben.
Wir sind auf der Intensivstation angekommen. Während wir weiter im Wechsel drücken und beatmen, werden die EKG – Elektroden geklebt und zeigen: Nulllinie, nur unterbrochen von kleinen Ausschlägen unserer Herzmassage. Asystolie. Der Intensivmediziner hält eine Ultraschallsonde auf das Herz, um die Herzaktion beurteilen zu können. Für eine Sekunde stoppen wir die Reanimation und sehen: da ist nichts mehr. Keine Herzaktion, keine Elektrik. Wir haben mehr als 20 Minuten reanimiert, da sagt der Intensivmediziner erleichtert: „Ist gut. Lassen wir ihn gehen. Zeitpunkt des Todes 11:20 Uhr.“
In dem Moment erscheint eine Zacke im EKG.
Wir starren auf den Monitor. Noch eine Zacke. Schnelle Kontrolle im Ultraschall: das Herz schlägt. Minimale rhythmische Kontraktionen, aber es besteht kein Zweifel. Das Herz ist wieder angesprungen.
„Oh nein...“, sagt der Oberarzt. „Ok… alles machen", sagt er resigniert. Es klingt paradox, aber wir sind traurig für den Patienten. Er lebt wieder, wir müssen alles machen. Also wird er intubiert, beatmet, gekühlt (um Hirnschäden zu vermeiden), und bekommt kreislaufunterstützende Medikamente.
Alles richtig gemacht? Die Zweifel bleiben
Er starb schließlich zwei Tage später auf der ITS. Er war nicht mehr wach geworden. Er hätte eigentlich sterben dürfen. Aber wir hatten keine Patientenverfügung. Ich bin sicher: Kein Arzt und keine Pflegekraft der Welt hätte den armen, alten Mann wiederbelebt, wenn nicht der Sohn daneben gestanden und den Wunsch geäußert hätte.
Haben wir falsch gehandelt? Ich weiß es bis heute nicht. Rein rechtlich eher nicht: es gab keinen dokumentierten Wunsch des Herren, also wurde wiederbelebt. Der Sohn ist ohne Vollmacht nicht weisungsbefugt, aber er äußerte den mutmaßlichen Willen. An dem ich allerdings zweifle. Oder möchte ernsthaft jemand mit 90 Jahren noch an Schläuchen auf der Intensivstation hängen, wenn man im Vorfeld sehr krank war?
Was vielleicht für Manchen fremd klingt, ist aber nicht abwertend gemeint. Manchmal darf man jemanden einfach gehen lassen. Ein über 90-jähriger Mensch, der sehr krank ist, darf sterben, finde ich.
Wir waren sehr verwundert, dass eine Reanimation gewünscht wurde, einfach angesichts der Vorerkrankung des Mannes und des weit fortgeschrittenen Alters.
Am besten in jungen und gesunden Jahren
Diese Situation fällt mir immer wieder ein, wenn Patienten eine Patientenverfügung machen möchten. Dazu gibt es nämlich viele Irrtümer.
Vor ab: Eine Patientenverfügung heißt nicht, dass man den Patienten im Notfall einfach sterben lässt. Eine Patientenverfügung bedeutet, dass ein Mensch regeln kann, wie er medizinisch behandelt wird, wenn er seine Wünsche selbst nicht mehr äußern kann. Und eine Patientenverfügung setzt nicht voraus, dass der Patient sich in einem unumkehrbaren Sterbeprozess befindet.
Sprich: Um eine Patientenverfügung machen zu können, muss man nicht sterbenskrank sein. Man kann (und sollte) auch als gesunder Mensch verfügen, was im Notfall passieren soll.
Dann manchmal geht es ganz schnell. Wir sind alle nicht unkaputtbar und ein Unfall kann jederzeit vorkommen. Und auch eine Krankheit kann mal aus dem Nichts auftreten. Dann hat man oft nicht die Zeit und Muße, sich mit diesen Regelungen zu befassen. Daher gilt: lieber recht früh mit dem Thema der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen. so schmerzhaft es auch ist.
Die wichtigsten Punkte
Es geht gar nicht mal nur um die Frage: Lasse ich mich wiederbeleben?
Es geht auch darum, ob man beatmet oder über eine Magensonde ernährt werden möchte, oder ob man Flüssigkeit erhält. Ob man mit Schmerzmitteln, Antibiotika oder bewusstseinsdämpfenden Maßnahmen behandelt wird oder ob man nach dem Ableben seine Organe spenden möchte.
In einer Patientenverfügung kann man also schriftlich festlegen, ob und wie man in bestimmten Situationen ärztlich behandelt werden möchte. Darüber ist es möglich, Einfluss auf spätere Therapie zu nehmen und das Selbstbestimmungsrecht zu waren. Gerade für den Fall, dass man zu dem Zeitpunkt nicht mehr ansprechbar oder einwilligungsfähig ist.
Man sollte diese Wünsche nicht zu schwammig formulieren. „Ich möchte nicht unwürdig sterben“, hilft leider nicht weiter, weil die Vorstellungen von einem würdevollen Ableben zu unterschiedlich sind. Der eine Mensch kann mit sich vereinbaren, an vielen Schläuchen bis zum letzten maschinellen Atemzug zu kämpfen. Der andere möchte keine Magensonden oder auch keine Blutprodukte erhalten. Hier spielen religiöse Weltanschauungen mit hinein. Daher sollte eine Patientenverfügung möglichst konkret formuliert werden. Anschauungsbeispiele und Textbausteine finden sich im Internet, hier eine gute Broschüre zu dem Thema mit Formulierungen.
Wichtig: die Patientenverfügung muss schriftlich verfasst und vom Patienten unterschrieben sein. Eine notarielle Beglaubigung ist nicht notwendig, damit sie Gültigkeit hat und auch der Arzt muss nicht unterschreiben. Damit hat man die Möglichkeit geschaffen, jederzeit seinen Willen schriftlich kundzutun. Eine Patientenverfügung kann außerdem jederzeit formlos widerrufen werden. Auch mündlich, beispielsweise dem behandelnden Arzt gegenüber. Wird sich nicht an die Patientenverfügung gehalten, kann die Missachtung des Patientenwillens als Körperverletzung strafbar sein.
Immer wieder Corona
Auch in diesem Artikel muss ich auf die Corona-Situation zu sprechen kommen.
Gängige Formulierungen in Patientenverfügungen sind Folgende:
„Wenn ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach unabwendbar im unmittelbaren Sterbeprozess befinde…“
„Wenn ich mich im Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit befinde, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist…“
Für genau solche Situationen ist eine Patientenverfügung gemacht. Dann kann man entscheiden, ob man am mutmaßlichen Lebensende eine künstliche Beatmung wünscht oder nicht. Blöderweise verzichtet man bei entsprechender Auswahl dann auch auf die Beatmung bei einem schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung, denn eine Patientenverfügung gilt grundsätzlich unabhängig von der Art und Stadium einer Erkrankung. Daher sollten solche Erkrankungen, die eine überbrückende maschinelle Beatmung nötig machen, am besten in der Verfügung aufgenommen werden, bzw. es sollte festgehalten werden, dass Beatmung nur Falle eines nicht abwendbaren Todes nicht durchgeführt wird (wenn man Beatmung ablehnt).
Nun muss ich aber dazu sagen, dass kein Arzt den Beatmungsschlauch fallen lassen würde, wenn ein bis dato gesunder Mensch an einer Pneumonie erkranken und wieder genesen könnte. Der mutmaßliche Wille kann und sollte dann von einem Angehörigen, der mit der Durchsetzung der Patientenverfügung bevollmächtigt ist, ausgesprochen werden und wird dann auch beachtet. Außerdem gilt, dass man als Patient beispielsweise bei der Einweisung auch dem Arzt gegenüber mündlich erklären kann (und in dem Fall sollte), dass eine Beatmung erwünscht ist, wenn nötig.
(Da ich selbst nicht in der Intensivmedizin arbeite, wäre ich an dieser Stelle sehr an Erfahrungen der Mediziner vor Ort interessiert.)
Um solche Szenarien zu vermeiden, ist eine Patientenverfügung ganz konkret zu formulieren.
Und ohne Patientenverfügung?
Die Patientenverfügung sollte unbedingt auffindbar sein, denn sonst nutzt sie leider wenig, wie bei unserem Leukämiepatienten aus dem Fallbeispiel. Liegt keine Verfügung vor, können Angehörige zwar den mutmaßlichen Willen des Patienten äußern, aber ohne gesetzlichen Betreuer darf dann nicht über weitere Maßnahmen entschieden werden. Und wie oben bereits geschildert: Im Zweifelsfall oder bei Zeitdruck werden dann lebenserhaltende Maßnahmen eingeleitet, bis ein Betreuer gestellt wurde.
Ein Irrglaube ist es, dass die nahen Angehörigen einfach so regeln dürfen, was mit Patienten geschieht, die nicht mehr selbst entscheiden können. Daher ist es wichtig, eine Vorsorgevollmacht zu erteilen, denn weder Ehepartner noch erwachsene Kinder sind automatisch entscheidungsbefugt. Sie können finanzielle oder gesundheitliche Entscheidungen (wenn keine Patientenverfügung vorliegt) nur treffen, wenn sie die Befugnis erteilt bekommen. Gibt es keine Vorsorgevollmacht, bestellt das Gericht einen Betreuer.
Liegt eine Patientenverfügung vor, ist diese rechtlich bindend, auch wenn Angehörige einen anderen Willen haben als der Patient. Sollte die Verfügung sehr alt sein oder Anhaltspunkte vorliegen, dass sie dem Willen des Patienten nicht mehr entsprechen, muss gemeinsam mit dem Betreuer und den Bevollmächtigten entschieden werden. Gibt es keine, muss ein Gericht einen Betreuer bestimmen.
Zusammenfassung
1. Macht eine Patientenverfügung, solange ihr gesund seid und die Folgen absehen könnt. 18 Jahre alt müsst ihr allerdings sein.
2. Eine Unterschrift eines Arztes ist nicht notwendig, auch nicht eine notarielle Beglaubigung. Aber die eigene Unterschrift und das Datum nicht vergessen! Sonst ist sie nicht gültig.
3. Eine Patientenverfügung sollte sehr konkret formuliert sein. Auch spezifische Erkrankungen wie Covid-19 sollten vorkommen. Auch religiöse und weltanschauliche Wünsche einfließen lassen (z.B. keine „Blutkonserven“ bei Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehova).
4. Patientenverfügungen können formlos widerrufen werden.
5. Patientenverfügungen sollten regelmäßig überprüft werden, weil sich auch der eigene Wille ändern kann.
6. Der Wille der Angehörigen ist im Falle eines Fehlens der Patientenverfügung nicht bindend. Daher ist eine Versorgungsvollmacht angeraten. Fehlt ein Bevollmächtigter, muss ein Gericht einen Betreuer stellen.
7. Macht einen Hinweis, wo die Patientenverfügung zu finden ist. Eine Verfügung, die nicht auffindbar ist, ist leider wertlos.
Fazit
Scheut euch nicht, euch mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es ist unangenehm, total. Ich habe selbst auch einen formlosen Brief zuhause, was mit mir passieren soll, wenn mir etwas passiert. Beim Schreiben kann man schon mal Heulen.
Aber ihr erspart euren Lieben viele unschöne Wege und Handlungen, wenn ihr euren Willen dokumentiert habt.
Nachtrag, 20.05.2020:
Zwischenzeitlich wurden die verwendeten Quellen teilweise aktualisiert, so dass ich meinen Beitrag an manchen Stellen korrigieren muss. Eine PV greift nicht immer im Falle einer Civid-Erkrankung.
Die Situation um Covid-19 lässt zwei Szenarien zu: eine dauerhafte Beeinträchtigung durch die Beatmung ist nicht zu erwarten, so dass eine PV nicht greifen würde.
Ist der Zustand des Patienten jedoch so beeinträchtigt, dass nicht mehr erwachen würde, würde eine PV greifen.
Wichtig ist generell, sehr präzise zu formulieren.
_______________
Bild: Geralt, Pixabay
Gender: Ich schreibe zwecks Lesefluss in der maskulinen Form, aber möchte natürlich alle Geschlechter ansprechen.
_______________
Quellen:
https://www.allgemeinarzt-online.de/atemwege/a/patienten-verfuegung-und-mehr-1717134, abgerufen 04.04.2020
https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Patientenverfuegung.pdf?__blob=publicationFile&v=37, abgerufen 04.04.2020
https://www.anwalt.de/rechtstipps/corona-und-kuenstliche-beatmung-nutzt-oder-schadet-die-patientenverfuegung_165557.html, abgerufen 04.04.2020
https://www.anwalt.de/rechtstipps/-populaere-rechtsirrtuemer-zur-patientenverfuegung_114566.html, abgerufen 04.04.2020
https://www.frag-einen-anwalt.de/Wiederbelegung-trotz-gegenteiliger-Patientenverfuegung--f269798.html, abgerufen04.04.2020