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Mit der Maske höre ich so schlecht!

„Sinn Sie die Ääzdin?“ Die alte Dame kommt langsam in mein Sprechzimmer gelaufen, bleibt dicht vor mir stehen und schaut mich skeptisch mit zusammengekniffenen Augen an. 

 

„Wissen Se, isch seh’ so schlescht. Die Aaache wollen nimmer.“ Die "Aaache" sind ihre hessischen Augen, und die kommen jetzt meinem Gesicht so nahe, dass von „Abstand halten“ nicht mehr die Rede sein kann, aber sie trägt ihre FFP2-Maske und außerdem kann sie ja auch nichts dafür, dass sie mich nicht erkennt. 

 

„Ja, die bin ich. Guten Morgen Frau Selig“, antworte ich und trete einen Schritt zurück. Es ist nicht nur so, dass der von mir geforderte Abstand einen Schutz für mich darstellt. Manchen Menschen ist nicht bewusst, dass von mir als Mitarbeiterin in einem Gesundheitsberuf auch ein gewisses Risiko ausgeht. Täglich bin ich in Kontakt mit zig Menschen, untersuche sie, schaue in Hälse, horche Lungen ab und kann berufsbedingt gar keinen Abstand einhalten. Wie soll ich auf 1,5m Entfernung Fäden ziehen? In die Ohren schauen? Einen Ultraschall in einem kleinen Räumchen machen? 

 

Ich bin geimpft, dreimal. Dennoch ist ja noch nicht ganz sicher, ob ich nicht im Falle einer Infektion genauso ansteckend bin, wie jemand ohne Impfung. Einigen Studien zufolge haben Geimpfte bei einer Covid-Erkrankung dennoch eine ansteckungsfähige Viruslast im Rachen, aber manchen anderen Untersuchungen nach sind wir jedoch nicht so lange infektiös und auch nicht so hochvirulent. 

 

Das Sprechzimmer jedenfalls scheint auch nach 1,5 Jahren Pandemie eine Oase der Keimfreiheit zu sein. Immer wieder kommt es vor, dass Patient*innen im Zimmer als erstes die Maske abziehen und eher feststellend als fragend sagen: „Hier kann ich die doch ausziehen, ne?“

 

Ein höfliches, aber knappes „Nein, tut mir leid“ ist inzwischen alles, was ich dazu erwidere. Inzwischen erkläre ich es nicht mehr, dass die Maske dazugehört, bis der ganze Pandemiespuk vorbei ist. Oder dass sie ja gar nicht wissen können, was für Patient*innen vor ihnen im Sprechzimmer waren. Denn tatsächlich schlüpfen immer mal wieder Erkrankte durch unser „Infektionsraster“ und abseits der Infektsprechstunde in die Praxis, weil sie lediglich Kopfschmerzen haben oder geimpft sind und einen negativen Schnelltest vorweisen können. Um dann im Gespräch, auf Nachfrage oder besser gesagt Nachbohren, damit rausrücken, dass der kleine Sohn aktuell in Quarantäne ist und im Kindergarten mehrere Kinder Corona haben. Dann sitzt also ein potentiell infektiöser Mensch in diesem Zimmer. Corona versteckt sich manchmal, und manchmal kommt es mit voller Wucht. Diejenigen zu schützen, die es mit voller Wucht treffen kann, ist Teil es Maskenplans.

 

Meiner hochbetagten Frau Selig mache ich keinen Vorwurf, so wie ich den wenigsten Patient*innen einen Vorwurf mache. Wirklich böse meint es fast niemand. Meist ist es Gedankenlosigkeit oder ein Gefühl von „mich wird es schon nicht so schlimm treffen“. Aber innerlich verdrehe ich manchmal die Augen, das muss ich schon zugeben. 

 

Die alte Dame stöckelt jetzt, nachdem sie weiß, wen sie vor sich hat, auf ihren schicken Schuhe langsam zum Stuhl und setzt sich hin. Den Gehstock stellt sie vor sich und stützt sich mit beiden Händen auf ihm ab.

„Frau Doktor, isch haabs mim Blutdruck“, eröffnet sie das Gespräch. „De Moje warer hunnertseschzisch und den unnere fünfeneunzsch.“

Ich übersetze das mal: „Am Morgen war der Blutdruck 160/95 mmHg.“

„Wie ist der Blutdruck denn zuhause?“, hake ich nach und zücke meine Blutdruckmanschette und das Stethoskop. 

„Was saachten Se?“, fragt sie laut, beinahe rufend, beugt sich wieder ein ganzes Stückchen nach vorne, nur abgebremst vom ihrem Gehstock, und zieht die Maske nach unten. „Isch hör doch schlecht!“ 

 

Es ist offenbar ein instinktiver Reflex, bei akustisch unverstandenen Worten die Maske abzuziehen und laut nachzufragen, was denn eben gesagt wurde. Weil man mit Maske so schlecht hört, vermutlich. Das ist wie beim Autofahren: Wenn wir rückwärts einparken, machen wir die Musik aus, weil man sonst so schlecht gucken kann. Ihr kennt das. Ich jedenfalls schon. 

 

Und so muss ich mir ein Grinsen verkneifen, lasse sie gewähren und wiederhole meinen Satz. Prompt zieht sie ihre Maske wieder korrekt an, nickt zufrieden und streckt mir den Arm entgegen, damit ich den Blutdruck messen kann. 

 

Wir reden also noch eine Weile, ich spreche extra laut, damit sie es durch die Maske auch hören kann, und nach einigen Minuten geht sie zufrieden mit neu aufgestellten Medikamentenplan wieder nach Hause. 

 

Maskenmacken

 

Die Pandemie hat schon viele Eigenarten der Menschen zutage gefördert. Ich klammere mich da nicht aus, auch ich habe meine Macken entwickelt. Beispielsweise, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, Sprechstunde ohne Maske zu halten. Oder dass ich bei langen Zugfahrten in voll besetzten Waggons, in denen ich auch mal essen muss, dies tun kann ohne zu atmen. Maske runter, abbeißen, Maske hoch. Rotierende Bewegungen der FFP2 beim Kauen sehen schon lustig aus, ich weiß. Auch das darf gerne belächelt werden, es wird sich wieder geben. Irgendwie, irgendwo, irgendwann. 

 

In meinem beruflichen Umfeld oder auch privat beobachte ich häufig auch ein ständiges Herumzupfen an der Maske, weil sie rutscht, klemmt oder klebt. Aus hygienischer Sicht ist das nicht zu empfehlen.

 

Manche Masken stehen vor Dreck, an anderen sieht man, wie sich die Rinnsale von Nasensekret in mäandernden Straßen durch die dünne Mund-Nasen-Bedeckung ziehen.  

 

Doch im Allgemeinen sind die immer noch gültigen AHA-L-Regeln von vielen Menschen auch im Alltag schon in Vergessenheit geraten oder werden nicht mehr ernst genommen. 

 

Ich habe schallend gelacht, als mir ein guter Freund (an dieser Stelle liebste Grüße) beim Kaffee erzählte, er sei ja neulich an der Wursttheke gewesen und habe seine Wünsche geordert, als er eine langsame Bewegung in seinem Augenwinkel vernahm. Er drehte seinen Kopf und blickte direkt in das Gesicht eines alten Mannes, der beinahe besorgt auf die fleischige Auslegeware starrte.

„Ich kaufe nicht alles weg, keine Sorge“, sagte er, mehr belustigt als entrüstet. 

Entrüstet war hingegen der alte Herr.: „Aber die Woscht vielleicht!“

 

Er hat am Ende noch etwas von der Woscht abbekommen. Wie lange er dort so beinahe Haut an Haut stand und um seinen Wochenendeinkauf bangte, weiß niemand. Fakt ist, dass wir dank der Impfung offenbar wieder in einer gewissen Normalität angekommen sind. Der Mensch als soziales Wesen kann nicht auf Dauer Abstand halten und kontaktlos leben. Eine Maske zu tragen, um noch eine Weile sich und andere zu schützen, sollte dabei meines Erachtens nach das geringste Problem sein. Diesen Winter bitte noch.

 

Auch, wenn man durch sie so schlecht hören kann. 

 

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Frau Selig heißt natürlich nicht Frau Selig. Der Name ist frei erfunden. 

 

Bild: RepentAndBelieveTheGospel