Depression - Wenn die Welt im Nebel versinkt

Triggerwarnung: Es geht um Depressionen und auch um Suizid. Wenn Sie sich in einer Notlage befinden, suchen Sie sich bitte Hilfe von außen. Telefonnummern finden Sie am Seitenende!

 

"Schreib doch mal was über Depressionen!"

 

Da habe ich mir vorgenommen, einen gut verständlichen Artikel über Depressionen zu schreiben, und scheitere eigentlich schon an der Themensetzung. Denn man kann nicht einfach einen Artikel darüber schreiben, der das gesamte Gebiet abdeckt. Und dann das Ganze auch noch mit einer Prise Humor, wie ich es gerne habe?

Depressionen und Humor? Geht das überhaupt? 

 

Das Internet ist voll von guten und seriösen Informationen über diese Erkrankung. Von Fachkliniken, Ärzten oder Bloggerkollegen (Onkel Michaels Blog). Und mit den psychiatrischen Fachärzten kann ich inhaltlich natürlich nicht mithalten. Psychiater sprechen lieber von Depression-Spektrum-Störung, weil die Erkrankung so viele Gesichter hat. Ich belasse es der Einfachheit halber in diesem Artikel bei dem Wort "Depressionen".

 

Aufgrund der Komplexität kann ich nicht das gesamte Thema abdecken. Auch die Epidemiologie und Statistik werde ich außen vor lassen. 

 

Ich kann aber einen neuen Ansatz versuchen. Einen persönlichen. Und einem dreifachen Ansatz: einmal aus Sicht der Patienten, dann aus Sicht des Arztes (sprich: mir) und aus Sicht der Angehörigen. 

 

Nämlich: wie geht es den Patienten? Wie fühlt es sich wohl für Menschen mit Depressionen an, wenn sie in eine überfüllte Praxis kommen und sich einem nahezu fremden Menschen öffnen wollen? Und das, nachdem sie wochen- bis monatelang mit sich haderten und überlegten und kämpften, aus dem Haus zu gehen?

Was nehme ich als Hausärztin wahr? Was geht in mir vor und wie kann ich helfen? Kann ich überhaupt helfen?

Und wie fühlen sie die Angehörigen? Sie kommen oft zu kurz bei der Sache. Was können sie tun? Darf man als Angehöriger die ganze Sache mächtig scheiße finden?

 

Ein Geständnis vorab: Meine Familie ist geprägt von dieser Erkrankung. Mehr bleibt mein Geheimnis, aber ich habe gesehen, was diese Krankheit macht. Ich habe gesehen, dass manche sie überwunden und manche nicht. Ich habe gesehen, dass Depressionen von einem Menschen nur eine Hülle lassen und es bei Weitem nicht so ist, dass die Erkrankten eben einfach ein bisschen mehr traurig sind. Und ich hatte selbst anstrengende Zeiten, in denen ich Hilfe von außen suchte und die Reaktion war: „Du musst halt mal wieder Urlaub machen.“ Joa. Hawaii gerne. Morgens mit der Sonne aufstehen und um 5:30 Uhr den  ersten Kaffee am Strand trinken und dabei den Fischern zusehen. Ich gerate ins Schwärmen. Gibt es das auf Kassenrezept?

 

Patienten kämpfen gegen ein Stigma

 

Vorab: Depressionen sind eine Krankheit. Ich schreibe es nochmal laut, damit es jeder hört:

 

DEPRESSIONEN SIND EINE KRANKHEIT.  NIEMAND KANN ETWAS DAFÜR. 

 

Ich hoffe, es war laut genug. Eigentlich ist der Artikel jetzt fertig, denn das Wichtigste habe ich damit gesagt. 

 

Schon alleine, dass man es so nachdrücklich sagen muss, ist eigentlich schade. Denn wenn jemand die Diagnose einer somatischen Erkrankung oder einer Verletzung gestellt bekommt, erfährt er normalerweise Unterstützung und Hilfsangebote. "Ooh, shit, Bein gebrochen? Komm, ich helfe Dir. Was kann ich tun?"

 

Nicht so der Depressive. Von „Also wir sind ja alle mal schlecht drauf“, bis hin zu „Reiß Dich mal zusammen“ oder einem „Na na…“ a la Sheldon aus der Big Bang Theory, bekommen die Patienten wundersame Dinge zu hören. 

Menschen wenden sich ab, Angehörige sind überfordert, Arbeitgeber genervt.

 

Wie äußert sich eine Depression? Nun, das ist aus Sicht der Patienten oft nicht leicht zu erkennen. Die Hauptsymptome „schlechte Stimmung“ und „Antriebslosigkeit“ sind manchmal versteckt und zeigen sich eher in Wut und Aggressivität oder in körperlichen Symptomen. Die Depression hat viele Gesichter und Männer sind anders depressiv als Frauen. Manche geraten permanent in Streit mit ihren Angehörigen oder dem Arbeitgeber und gehen zum Arzt, weil sie sich so nicht kennen.

 

Depressionen kommen selten mit dem Hammerschlag, sondern eher schleichend. Jeder ist tatsächlich mal schlecht gelaunt. Dieser Drang nach permanentem Glück heutzutage ist unnatürlich. Glück als Leistungsgedanke. Denn würden wir täglich nur Glück erfahren, käme es uns wieder normal vor. Gerade sehr wohlhabende Menschen, die „alles“ haben, sind oft nicht glücklich im Leben. 

 

Wenn man aber über den Zeitraum von zwei Wochen nicht mehr aus der schlechten Phase herauskommt, muss man sich selbst ein wenig beobachten.

Zu einer Depression gehört neben der veränderten Stimmung eine oft lähmende Antriebslosigkeit. Die Patienten schaffen es manchmal nicht, das Bett zu verlassen. Sie wollen ja, natürlich wollen sie das! Aber es geht nicht. Die Zeit vergeht einfach und sie liegen immer noch im Bett. Und wenn sie es geschafft haben, sich zu duschen und anzuziehen, sind sie so erschöpft, dass sie vom Sofa nicht mehr aufstehen können. Der Schritt zur Tür hinaus, fühlt sich an, als wäre zwischen ihnen und der Tür eine wabbelnde Wand aus Wackelpudding, die nicht zu durchdringen ist. Oder ein Krater mit Lava. Oder als wäre die Tür zwar vor ihnen, aber wenn sie sich nähern, rückt sie wieder ein Stückchen weg. Und wieder ein Stückchen. Und wieder. 

 

Den Menschen erscheint das Leben leer. Wozu das alles? Was soll da noch kommen? Eine Sinnlosigkeit erfasst sie und mit ihr das Gefühl, dass nichts Gutes mehr kommen wird. Und dann manchmal auch der Wunsch, dass das alles einfach aufhört, weil die Erschöpfung zu groß ist. 

Manche Menschen möchten dem ein Ende setze, aber die Antriebslosigkeit hindert sie. Wenn sie dann einfach mal locker flockig Antidepressiva erhalten, kann es sein, dass die Antriebslosigkeit ein Ende hat und sie es damit „endlich“ schaffen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Schwierige Kiste. Medikamente sollten daher unbedingt in Verbindung mit Psychotherapie stehen, damit es nicht zu solchen Situationen kommt. Wer seines Lebens überdrüssig ist, braucht dringend spezialisierte Hilfe. (Anlaufstellen findet ihr unten im Blog).

 

Es gibt aber auch Tage, an denen Erkrankte lachen können. Auch Humor ist vorhanden und Treffen mit Freunden, wenn man sich mal dazu überwunden hat, können als aufbauend und ablenkend empfunden werden. Lachen funktioniert. Bei manchem Depressiven funktioniert auch das Arbeiten, wenn auch unter hohem Kraftaufwand. Das Ganze nennt man "High-Functioning Depression" und ist dennoch eine Art der Depression. Die Personen schaffen es, den Alltag aufrecht zu erhalten, zu arbeiten, „zu funktionieren“, die Kinder zu versorgen und der Außenwelt ein perfektes Leben vorzugaukeln. Und manchmal ist die Arbeit auch der einzige Halt im Leben, das Strukturgebende. 

 

Manche Depressive wandeln ihre Energie in kreative Werke um. Schriftsteller, Künstler, die Arbeit als Manager eines Konzerns, Marathonläufer. Es gibt diverse Arten, der Erkrankung Ausdruck zu verleihen, aber natürlich ist nicht jeder Künstler oder Marathonläufer depressiv. 

Es können Schlafstörungen auftreten, Essstörungen, psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Herzrhythmusstörungen oder Magenschmerzen. 

 

Wir halten fest: Der Patient bemerkt, dass etwas nicht stimmt, aber macht erstmal weiter, wie bisher. Es wird schon aufhören. Aber es hört nicht auf. Die Kopfschmerzen werden schlimmer, die Schlaflosigkeit auch. Magenschmerzen gesellen sich ein. Und Ängste, dass man an einer schlimmen Erkrankung leidet. Die Arbeit wird immer belastender, der Partner ist zunehmend genervt oder ratlos. Er oder sie geht zum Arzt und der sagt: „Wie wäre es denn mal mit Urlaub?“

Großartige Hilfe. Nicht. Jemand mit einer Depression erkennt manchmal selbst nicht, dass es eine ist. Er merkt, dass es ihm schlecht geht und muss dann mit dem genervten und/oder überforderten Umfeld klarkommen. Nicht so einfach. 

 

Die Sicht des Arztes 

 

Viele Menschen mit psychischen Beschwerden kommen zu mir. „Ich habe gehört, mit Ihnen kann man reden.“ Das macht mich stolz. Das ist mein Beitrag zu sprechenden Medizin. 

 

Und dennoch weiß ich manchmal auch nicht sofort, was den Patienten fehlt, wenn sie vor mir sitzen. Manchmal würde ich gerne die Diagnose aus der Hüfte schießen, aber das geht nicht, denn gerade die psychischen Themengebiete überlappen sich. Und manchmal steckt hinter einer Depression auch eine organische Erkrankung, eine Schilddrüsenerkrankungen, hirnorganische Störungen, oder Medikamente.

In Lehrbüchern teilt man die Erkrankung anhand ihrer Ursache in endogen und exogen/reaktiv ein. In der Praxis ist das nicht relevant. Ein Burnout ist auch eine Form der Depression und eine Depression kann sich nach einer belastenden Situation entwickeln. Dennoch ändert es nichts an der Tatsache, dass es den Patienten schlecht geht, auch wenn es eine greifbare Ursache gibt. 

 

Man hat bei Patienten einen Serotoninmangel im Gehirn festgestellt, aber was war zuerst? Der Botenstoffmangel oder die Depression? Huhn oder Ei? Vielleicht löst eine Depression an sich ja den Mangel an Serotonin aus, man ist sich nicht so sicher darüber, und daher sollte man nicht nur medikamentöse Therapie einleiten. Manchem Menschen helfen Medikamente auch gar nicht.

 

Und dann sind da noch die ganzen Differentialdiagnosen: Zwangsstörungen, Panikstörungen, Phobien, manische und hypomanische Phasen, Suchterkrankungen, Borderline, posttraumatische Belastungsstörungen. 

 

Für mich als Hausärztin gilt es aber viel mehr zu erkennen, ob eine Depression vorliegt, oder ob die Ursache eine organische ist. Und dann die entsprechenden Schritte einzuleiten. 

 

Vier Fallbeispiele: 

 

Fall 1: Eine junge Frau kam zu mir und sagte, sie habe Depressionen. Sie kenne das von sich, seitdem sie ein junges Mädchen war und wisse, damit umzugehen. Aber diesmal sei es anders. Schwieriger. Sie habe schon mit ihrem Psychiater gesprochen und wieder mit den Medikamenten angefangen, sie mache auch Gesprächstherapie und Sport, aber nichts helfe. 

Und dann saß sie vor mir und ich fragte mich, was denn nun meine Aufgabe sein könne. Sie war bereits angebunden beim Facharzt, machte Therapie und alle Maßnahmen, die man privat so tun kann. Ich bot ihr an, einmal die Woche zu sprechen. Einfach so. Ein kurzes Status-Update zwischendurch, um etwas Struktur zu bieten. Und so machten wir es. Sie sagte irgendwann, diese kurzen Termine hätten ihr Halt gegeben. Und sie hätten ihr geholfen, einige Dinge in ihrem Kopf zu sortieren, Frust loszuwerden, den Job zu wechseln und neu anzufangen. 

 

Fall 2: Ein junger Mensch drückte mir in der Sprechstunde sein Tagebuch in die Hand. Darin standen erschreckende Dinge. So erschreckend, dass ich mit diesem jungen Menschen sofort eine Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie besprach und organisierte. Die Eltern wurden kontaktiert und ich sagte zu den Mitarbeiterinnen, dass ich in der nächsten halben Stunde keine Patienten betreuen kann, denn erfahrungsgemäß dauert die Organisation und die Besprechung mit den Angehörigen lange.  

Einige Wochen später kam die Familie wieder zu mir und berichtete. Es war besser, aber noch nicht gut. Eine Depression zu überwinden dauert Monate. 

 

Fall 3: Eine Dame in den mittleren Lebensjahren, eine starke und bodenständige Frau, wollte mit mir reden. Sie versuche es jetzt schon lange alleine zu regeln, aber es gehe nicht mehr. Sie komme kaum noch aus dem Haus, wolle niemanden sehen, nichts bereite ihr mehr Freude. Sie war so klar über ihren Zustand, dass die Diagnose einer Depression beinahe schon als blinkender Leuchtpfeil über ihr schwebte. Ganz ohne Doktor Google. Dennoch nahm ich ihr Blut ab und machte Diagnostik, um nichts Organisches zu übersehen.

Wir fanden keine freien Termin bei einem Psychologen, also kam sie regelmäßig zu mir. Wenn auch nur kurz. Und wie bei der jungen Frau aus dem ersten Beispiel waren die kurzen Termine wie eine Art Anker in ihrem Leben. Wir sprachen über Antidepressiva und ich verordnete ihr eins, das wir Schritt für Schritt erhöhten. Es ging ihr langsam immer besser. Irgendwann kam sie nur noch, um mir zu mitzuteilen, dass es ihr gut gehe. Und irgendwann sagte sie: „Ich komme nur noch, wenn was ist, ok?“ 

 

Fall 4: Eine ältere Patientin kam regelmäßig mit immer den gleichen Herzbeschwerden. Sie schilderte jedesmal ihre Ängste, die ich regelrecht spüren konnte, und ich ließ mich jedesmal auf Diagnostik ein, um ihr die Angst vor einem plötzlichen Tod zu nehmen. Im Nachhinein war das vielleicht nicht sonderlich klug, denn dadurch kann man den Menschen auch das Gefühl geben, etwas Organisches müsse ja vorliegen, „wenn sogar der Arzt guckt“, aber ich wollte ihr damit eher zeigen, dass es nichts Schlimmes ist. Als ich sie irgendwann vorsichtig ansprach, ob es ihr denn psychisch gut gehe, wie die Stimmung so sei, da wurde sie ungehalten. „Ich bin doch nicht verrückt!“, schimpfte sie und fühlte sich von mir in die Psycho-Ecke gedrängt. Aber wenn das Leben verrückt, nicht mehr an seinem Platz steht, braucht man eben Hilfe. Ein "Irrenarzt" hilft, wenn man in die Irre geraten ist. 

Ich kam nie an sie heran. 

 

Psychische Erkrankungen spielen in der Hausarztpraxis eine große Rolle, weil Hausärzte oft der ersten Ansprechpartner sind. Wir müssen „filtern“ und die organischen von den nicht-organischen Erkrankungen trennen, daher ist eine Diagnostik bei jedem Verdacht unumgänglich. Blutentnahme, EKG, Blutdruck, Medikamentenanamnese, Familienanamnese, ggf. bei Verdacht auf hirnorganische Störungen auch Überweisung zum Neurologen mit MRT und EEG und bei Frauen ggf. Überweisung zum Gynäkologen zwecks Hormonstatus. Auch ein Testosteronmangel bei Männern kann Antriebslosigkeit hervorrufen. Ich hatte mal einen neuen Patienten, der sich immer schlapp und antriebslos fühlte. Bei ihm lag ein manifester, also stark ausgeprägter Diabetes vor. 

 

Zwecks Diagnostik wird die Depression in Haupt- und Nebendiagnosen eingeteilt und je nachdem, wieviele Symptome der Patient zeigt, kann man eine Depression in leicht, mittel oder schwer einteilen. Eine mögliche Suizidalität muss ebenfalls angesprochen und ernst genommen werden und erfahrungsgemäß sind Patienten darüber erleichtert. 

 

Die Therapie und die Medikamente kann ich hier leider nicht aufdröseln, das würde zu weit führen. Als Hausärztin kann ich aber „da sein“, Halt geben, manchmal mit der medikamentösen Therapie beginnen und versuchen, den Weg für eine Therapie zu ebnen. Wenn ich auch nicht zwanzig Therapeuten anrufen kann, denn die Eigeninitiative der Patienten ist dennoch wichtig. Eine große Hürde für die Erkrankten, aber auch in wichtiger Schritt in Richtung Besserung, denn es zeigt auch: „Ich kann das, ich habe es geschafft.“ Kleine Aufgaben jeden Tag, Schritt für Schritt. 

 

Antidepressiva sind gut und nützlich, wenn sie parallel zu einer psychotherapeutischen Behandlung eingesetzt werden. Die Rolle der Ernährung wird aktuell noch erforscht, Sport hilft nachweislich, das Befinden zu verbessern. Oft spielt er aber erst wieder eine Rolle, wenn die bleierne Antriebslosigkeit überwunden wurde. Auch erholsamer Schlaf wirkt antidepressiv und Schlafdiagnostik und schlafanstoßende Medikamente können hilfreich sein. Ganz große Vorsicht ist bei Benzodiazepinen und den sogenannten Z-Drugs (Zopiclon, Zolpidem) geboten, da sie schnell abhängig machen. Benzodiazepine können Panikattacken durchbrechen, sind aber keine Dauertherapie.

 

Antidepressiva machen übrigens nicht abhängig! Man muss sie allerdings nach und nach ausschleichen, wenn man sie nicht mehr nehmen möchte, weil sie sonst Rückfälle verursachen können. Manche Blutdruckmedikamente muss man ja auch ausschleichen und niemand hat Angst vor ihnen. 

Bei Bluthochdruck betreibt man Lebensstiländerung und nimmt seine Medikamente, wenn nötig. Bei Depressionen kann es auch angebracht sein. Die Angst vor der Tabletten kann man zur Sprache bringen und (wie bei Blutdruckmitteln auch, da passt auch oft nicht gleich das erste Medikament) nach und nach anpassen. 

 

Und die Angehörigen? 

 

„Ich kann nicht mehr. Wirklich, ich mache es auch nicht mehr. Glauben Sie mir, ich habe alles versucht. Verständnis, Unterstützung, Schimpfen, zum Arzt schleppen, Ignorieren. Nichts hilft. Ich muss mich wieder um mich selbst kümmern.“

 

Eine Ehefrau saß verzweifelt vor mir, die Tränen liefen über die Wangen. Ihr Ehemann zog sich immer mehr zurück und wollte keine Hilfe annehmen. Die Angst vor Stigmatisierung und die Erwartungen an das eigene Funktionieren, Scham, hielten den Mann davon ab. In der älteren Generation noch mehr, als in der jüngeren. 

 

Er war nicht mein Patient, für ihn konnte ich hier nichts tun. Aber für sie. Nämlich sie dabei zu unterstützen, ihren Mann zu unterstützen. Ich gab ihr den Raum, wütend und traurig sein zu dürfen und ihre Ängste zur Sprache zu bringen. Weil es auch für Angehörige nicht leicht ist, immer stark und verständnisvoll und geduldig zu sein. 

 

Für die Depressiven ist das aber essentiell. Ich habe einen Satz gelesen: Hoffnungslosigkeit gehört zur Depression, wie der Schnupfen zur Grippe. Hmpf. Nein. Schnupfen gehört zur Erkältung und nicht zur Grippe. Aber das nur am Rande. Aber ja, Hoffnungslosigkeit gehört zur Depression und weil diese Hoffnungslosigkeit dazu führt, dass Depressive nicht zum Arzt gehen, brauchen Angehörige eine Menge Geduld. 

 

Ratschläge, dass es „keinen Grund für die Verstimmung gebe“ und „doch alles gut sei“, verschlimmern die Schuldgefühle der Patienten. Auch Tipps wie „Geh doch einfach mal raus“ helfen nicht, sondern steigern das Gefühl der Unfähigkeit und der Schuld bei den Erkrankten noch mehr. 

 

Ständiges Drängen ist nicht hilfreich. Die Patienten sich selbst zu überlassen aber auch nicht. Oft hilft es, dem anderen zu vermitteln, dass man da ist, wenn benötigt. Dass man unterstützt. Dass er nicht alleine ist. Dass es nicht schlimm ist, wenn manche Dinge nicht funktionieren. 

Angehörige dürfen sich aber auch einräumen, sich Zeit für sich nehmen oder die Wut bei Freunden oder dem Hausarzt rauszulassen. Aus Sicht von Depressiven ist es sogar hilfreich zu sehen, dass es den Angehörigen dennoch gut geht. Weil es das Schuldgefühl verstärkt, wenn sie den Eindruck haben, alle um sich mit in die Depression zu reißen. 

 

Wenn von Suizidalität gesprochen wird, muss man manchmal die Reißleine ziehen und sich auch gegen den Willen des Erkrankten Hilfe von außen suchen. Nach überstandener Krankheit sind die meisten Depressiven froh, dass sie ihrem Leben kein Ende gesetzt haben. Denn die Depression ist eine Krankheit, die man nicht einfach mit etwas Willenskraft kontrollieren kann. Sie ist ein Miststück. Sie ist die schwarze Wolke, die einen umgibt. Der Nebel, der sich lichten muss. Niemand kann etwas dafür. Weder Kranke noch Angehörige. 

 

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Hilfe gibt es hier:

Wenn Sie sich in einer akuten Krise befinden, wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten, die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112.  Sie erreichen die Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222.

 

Info-Telefon Depression 0800 / 33 44 533

 

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Ein großes Dankeschön an Andreas Knöll, Facharzt für Psychiatrie, für das Gegenlesen des Artikels und das Brainstorming! 

 

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Bild: bspence81, pixabay

Gender: Wie immer gilt, dass ich alle Geschlechter meine, auch wenn ich zwecks Lesefluss in der maskulinen Form schreibe.